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Ein Beispiel von Atlantis-Irrtümern in der aktuellen Literaturwissenschaft

Thorwald C. Franke
© Januar 2021

Rezension zu: Paul-André Claudel, Atlantides rêvées – Archéologie et Imaginaire, in: Hypotheses.org (Blog), vier Teile 2017-2020.


Auf dem Blog "Hypotheses.org" hat der französische Literaturwissenschaftler für moderne Literatur Paul-André Claudel (1978-) von der Universität Nantes 2017-2020 einen mehrteiligen Artikel über Platons Atlantis veröffentlicht. Er verbindet damit das Interesse an der Literatur über den Orient aus dem 19. Jahrhundert, und in diesem Kontext an "Mediterranen Mythen", zu denen er Atlantis zählt.

Zunächst müssen wir Paul-André Claudel im Grundsatz zustimmen: Die Atlantisgeschichte wurde vielfach literarisch verarbeitet und ist deshalb natürlich für die moderne Literaturwissenschaft von Interesse. Gegen das, was Claudel sagen will, lässt sich nichts Grundsätzliches einwenden. Im Gegenteil. Diese Forschung ist zu unterstützen.

Leider begeht Claudel bei der Bestandsaufnahme des Ursprungs der Atlantisgeschichte bei Platon die üblichen Fehler. Das entwertet den Ansatz und das Anliegen von Claudel in keiner Weise, aber die ewig falschen Meinungen über Platons Atlantis können natürlich die Analysen und Schlussfolgerungen beschädigen, die Claudel darauf aufbaut. Deshalb wollen wir einige dieser Irrtümer durchgehen.

Vorgebrachte Argumente für Fiktion

Zunächst wird Atlantis als ein reiches, fabulöses Wunderland dargestellt, "trop beau pour ne pas y croire", also "zu schön um nicht daran zu glauben". Oder: "civilisation extrêmement brillante, riche, prospère, très avancée technologiquement". Oder: "paradis perdu". Das alles ist unzutreffend. Platons Atlantis war gewiss ein von der Natur gesegnetes Land, vergleichbar den Beschreibungen Mespotamiens bei Herodot, aber dennoch kein Wunderland. Claudel vermischt auch oft die moderne Überformung der Geschichte und die ursprüngliche Geschichte. Claudel hat völlig Recht, dass das Wort Atlantis heute fast schon magische Bedeutung hat und zum Träumen einlädt. Aber das ist nur die moderne Überformung der Geschichte.

Angeblich ähnelt die Atlantisgeschichte anderen fiktionalen Texten der alten Griechen aus Platons Zeit. Das ist jedoch falsch und wird auch durch ständiges Wiederholen nicht wahrer. Der historische Roman entstand erst mehrere Jahrhunderte nach Platon. Wenn Platons Atlantis eine Fiktion ist, dann ist es eine Täuschung der Leser, aber keine romanhafte fiktionale Allegorie, die vom Leser als solche erkannt werden sollte.

Angeblich war Atlantis ein integraler Bestandteil der wunderlichen Mythen über die Ränder der Welt. Auch das ist falsch. Atlantis ist in diese sonstige Mythologie nicht integriert und Atlantis liegt auch nicht an einem mythischen Rand der Welt, sondern am Rand der bekannten Welt, an einem von Platon sehr konkret benannten Ort. Aristoteles bestätigt das Vorhandensein von Schlamm an der Stelle, an der Atlantis versunken sein soll, und bietet keine alternative Erklärung zu dessen Ursprung an.

Angeblich ist Atlantis eine typische mythische Illustration, wie sie in Platons in Dialogen oft vorkommen. Ein konkretes Beispiel ist das Höhlengleichnis: Niemand würde nach dieser Höhle suchen. Doch diese Vergleiche funktioniere nicht. Die Atlantisgeschichte wird nicht als Mythos dargestellt. Und sie ist auch kein Gleichnis. Prima facie wird die Atlantisgeschichte als historischer Bericht präsentiert. Sie mag eine Erfindung sein, ein Mythos oder ein Gleichnis ist sie nicht. Es wird ausdrücklich gesagt, dass sie kein "mythos" sondern "logos" ist.

Rezeptionsgeschichte

Die Rezeptionsgeschichte wird ebenfalls falsch dargestellt. Dabei folgt Claudel den zahlreichen Irrtümern von Pierre Vidal-Naquet. So meint Claudel, dass sich in der Antike kaum jemand um Atlantis kümmerte bzw. die skeptische Lesart vorherrschte. Vidal-Naquet hätte gezeigt, dass Atlantis in ernstgemeinten Texten nicht vorkommt. Doch es kommt in ernstgemeinten Texten sehr wohl vor.

Es ist falsch, dass Aristoteles und Strabon gegen die Existenz von Atlantis eingestellt waren. Es handelt sich offensichtlich um eine Anspielung auf Strabon II 102, doch dort ist von Aristoteles gar nicht die Rede, und Strabon ist ein Atlantisbefürworter, kein Skeptiker. Die Idee, dass in Strabon II 102 ein Wort des Aristoteles gegen die Existenz von Atlantis vorliegt, ist ein Irrtum, der Anfang des 19. Jahrhunderts aufkam, und spätestens 2010 klar als Irrtum benannt wurde. Inzwischen hat die Suche nach anderen möglichen Autoren für das betreffende Wort gegen die Existenz von Atlantis begonnen.

Claudel meint, dass man am Ende des Mittelalters und mit dem Beginn der Renaissance damit anfing, Atlantis als einen realen Ort zu sehen, so dass die skeptische Lesart zur Minderheit wurde. Dann gab es im 18. Jahrundert angeblich eine Pause in der Atlantisrezeption. Schließlich war das 19. und 20. Jahrhundert das "zweite goldene Zeitalter" der Atlantisrezeption. Ignatius Donnelly wird besonders hervorgehoben. Erst im 20. Jahrhundert bekam die Interpretation als fiktionale Allegorie wieder die Oberhand, so Claudel. Doch das alles ist leider falsch. Die Interpretation als Realität hatte von der Antike bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts durchgängig die Oberhand. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts, also nicht erst im 20. Jahrhundert, kippte die Meinung in Richtung Fiktion, also noch bevor Donnelly sein pseudowissenschaftliches Werk publizierte.

Problematisch ist, dass Claudel bei Donnelly ein neues literarisches Genre sieht, "celui de l’imaginaire, par essence invérifiable, ou infalsifiable". Das ist eine falsche Analyse. Donnelly verstand sein Werk als reines Sachbuch, nicht als Imagination, die man nur nicht widerlegen könne. Donnelly glaubte selbst an das, was er schrieb. Es ist also entweder wahr oder irrig. Donnelly ist keine Belletristik, sondern Pseudowissenschaft.

Viele weitere Fehler

Völlig falsch ist die Darstellung der Atlantisbefürworter als "Literalisten", die Platon "à la lettre" lesen. Solche gibt es zwar auch. Aber gerade die Anhänger der minoischen Hypothese, die Claudel erwähnt, werden damit schlecht beschrieben. Der Gedanke der historisch-kritischen Interpretation kommt bei Claudel überhaupt nicht vor. Statt dessen wird auf das unverschämte Buch "Das Atlantis-Syndrom" von Paul Jordan verwiesen, das den Gedanken an eine mögliche Existenz von Atlantis zur Krankheit erklärt.

Der Auftrag des Sokrates, der zur Erzählung der Atlantisgeschichte führt, wird völlig falsch dargestellt. Angeblich fragt sich Sokrates, ob der Idealstaat eine reale Korrespondenz hat, oder nur ein süßer Traum ist. Das ist unzutreffend. Unzutreffend ist auch, dass die Dialogteilnehmer das nun entscheiden sollen.

Es hat nichts mit Atlantis zu tun, aber der Vollständigkeit halber: Der Demiurg des Timaios wird als Schöpfer der Materie beschrieben. Das ist er natürlich nicht. Das ist nur die religiöse Lesart von Judentum, Christentum und Islam.

Interessanterweise sagt Claudel, dass er Atlantis lieber als Fiktion liest, selbst wenn es real wäre: "Ne vaudrait-il pas mieux goûter le récit de l’Atlantide essentiellement pour lui-même ? C’est le choix que nous ferons." Das kann er gerne mit den späteren Überarbeitungen der Atlantisgeschichte tun, aber die originale Geschichte sollte man bitte nur so lesen, wie sie von ihrem Autor gemeint und von seinen Zeitgenossen verstanden wurde.

Es wäre noch sehr viel mehr zu sagen, doch wir belassen es dabei.

Zusammenfassung

Paul-André Claudel hat sich auf die verbreitete wissenschaftliche Literatur zu Platons Atlantis verlassen, offenbar vor allem auf Pierre Vidal-Naquet, denn auch Vidal-Naquets "Perversität" Platons fehlt nicht. Damit war er vielen Irrtümern schutzlos ausgeliefert. Das ist nicht seine Schuld, sondern die Schuld des aktuellen Zustandes der Wissenschaft. Der aktuelle Zustand der wissenschaftlichen Meinung zu Platons Atlantis ist beklagenswert.

Das entwertet natürlich Ansatz und Anliegen von Claudel in keiner Weise. Eine Erforschung der belletristischen Literatur zu Atlantis und der Überformungen der originalen Geschichte in späteren Zeiten ist legitim und unterstützenswert.

Externe Links

Paul-André Claudel
Maître de Conférences en littératures comparées
Département Lettres Modernes, Université de Nantes
https://www.univ-nantes.fr/paul-andre-claudel

Paul-André Claudel, Atlantides rêvées – Archéologie et Imaginaire, in: Hypotheses.org (Blog), vier Teile 2017-2020.
https://atlandides.hypotheses.org/petite-histoire-du-mythe-de-latlantide



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