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Christopher Gill über Platons Atlantis 2018

Ein kritischer Kommentar

Thorwald C. Franke
© 18. November 2022


Rezension zu: Christopher Gill on Plato’s Atlantis, Interview von Earl Fontainelle im The Secret History of Western Esotericism Podcast (SHWEP) Nr. 28, 08 März 2018.


Christopher Gill ist emeritierter Professor an der Universität von Exeter im Südwesten Englands. Sein Forschungsschwerpunkt ist die antike Philosophie, insbesondere Ethik und Psychologie. Im Laufe seiner Karriere hat Christopher Gill wiederholt wissenschaftliche Artikel und Bücher über Platons Atlantis veröffentlicht und ist so im Laufe der Zeit zur führenden Persönlichkeit in der angelsächsischen Welt zum Thema Platons Atlantis geworden, vielleicht vergleichbar mit der Position von Pierre Vidal-Naquet in der frankophonen Welt.

Der mit diesen Veröffentlichungen vertraute Leser weiß, dass Christopher Gill seine Meinung zum Thema Platons Atlantis immer wieder geändert hat, teils explizit, teils stillschweigend, und vielleicht nicht immer mit dem klaren Bewusstsein, dass er gerade dabei war, eine Meinung zu äußern, die einer zuvor geäußerten Meinung widerspricht. Daher ist es manchmal schwierig, Christopher Gill auf eine Position festzunageln, und daher ist es recht interessant zu sehen, was er in diesem Interview abseits seiner Veröffentlichungen sagt.

Der Titel des Podcasts The Secret History of Western Esotericism mag pseudowissenschaftlich klingen, ist es aber nicht, wie sich herausstellt. Der Interviewer, Earl Fontainelle, ist ein Spezialist für Neuplatonismus und Plotin, und im Laufe des Interviews wird deutlich, dass er das ein oder andere Buch über Platons Atlantis gelesen hat, bevor er das Interview führte.

Technischer Hinweis: Die Zeitstempel geben die Zeit an, nach der das jeweilige Zitat innerhalb kurzer Zeit im Podcast erscheint. Die Aussagen im Interview wurden vom Autor dieser Rezension transkribiert und behutsam von der gesprochenen an die geschriebene Sprache angepasst.

Christopher Gills grundlegende Hypothese

Gleich zu Beginn des Podcasts stellt Christopher Gill klar, dass die Atlantisgeschichte für ihn eine Erfindung von Platon ist: "There are no occurrences of the myth before Plato and all later mentions of the myth in antiquity in modern times basically go back to him. So he (laughter) he made it up. Not much doubt about that." (00:01:13) Wir werden in späteren Abschnitten mehr über Gills Gründe für dieses Urteil erfahren.

Das Hauptthema sowohl der Reden des Timaios als auch des Kritias ist die Ver-/Einkörperung ("embodiment") einer Idee. In beiden geht es um das, "what Shakespeare called giving something a local habitation of the name. It's giving the ideal a concrete, specific particular form. It's finding form for the ideal." (00:06:10) Im Timaios geht es um den Kosmos, in der Atlantisgeschichte geht es um die Verkörperung der idealen Stadt in der politischen Welt. Deshalb sagt er über die enge Verbindung der Rede des Timaios über die Kosmologie mit der Atlantisgeschichte, "it all makes fairly good sense, at least from the point of view of the Atlantis story" (00:05:36), "though that comes in as quite a surprise" (00:02:06) in diesem Kontext.

Das urzeitliche Athen ist "unified" und charakterisiert durch "single political institution, single place", während "Atlantis, on the other hand, is ... characterized by what you might call structured complexity." Das führt zu einem Unterschied in der Stabilität: Während "Athens remained the same. ... Atlantis changed over time.." (00:30:18) Atlantis hatte "a political structure and a physical structure, that had the potential of corrupting them", sobald "the divine strain in them, which goes back to the divine parenthood of Poseidon, ... weakened." (00:34:29) Komplexe Strukturen halfen ihnen also nicht – Gill erwähnt z.B. dass "the kings themselves had a very lavish ritual for preventing quarrels" – während Athen sich auf "virtues, especially the virtues of moderation and courage" verließ. (00:35:31) "The state was unified and it had moderation." (00:36:32)

Auf die Frage, warum Platon in seinem vorzeitlichen Athen keine Philosophenherrscher explizit erwähnt, sagt Christopher Gill, dass es bei den Philosophenherrschern um "the idea of progress towards knowledge, towards what Plato would regard as real knowledge, knowledge of the forms" gehe (00:08:47), und im vorzeitlichen Athen "we don't have that kind of intellectual theme which gave rise to the idea of the philosopher rulers. That is the passage towards knowledge, because that's the role of the philosopher rulers there. They are led toward knowledge." (00:10:00) Über das vorzeitliche Athen sagt Christopher Gill: "So what we have is something different here. We have these two, we have the idea which can of course, only really, strictly speaking, be an approximation, we have an idea about what the ideal would be like if it were put into practice" (00:10:00) und "What we do have is the social institutions, the social institutions of the Republic." (00:06:10) "And yet in a way, we do have philosopher rulers in the Atlantis story in the Timaeus and Critias, because Socrates, when he is discussing his interlocutors, he characterizes all of them as people who have expertise in both philosophy and politics. And that's why they are good people to tell his story." (00:10:00) – Es ist fraglich, ob diese Begründung für die fehlenden Philosophenherrscher wirklich überzeugend ist, aber zumindest erkennt Christopher Gill an, dass die Dialogteilnehmer als Philosophen gelten.

Über Kritias' Darstellung der Atlantisgeschichte

Wie so viele andere Atlantisskeptiker lässt auch Christopher Gill ein entscheidendes Detail am Anfang des Dialoges Timaios aus. Es ist die Tatsache, dass der erste Plan, wie die ideale Stadt in Aktion dargestellt werden sollte, darin bestand, eine Geschichte auf der Grundlage der Kompetenz der Dialogteilnehmer zu erfinden. Erst nachdem dieser Plan vorgeschlagen wurde, kommt Kritias hinzu und schlägt statt dessen eine echte Geschichte als Grundlage vor, und Sokrates stimmt zu: Eine echte Geschichte ist besser als eine erfundene. Doch Christopher Gill lässt dieses Detail aus: "So first of all, Socrates presents the republic and says, I'd like to see the republic put into action. And then we have an initial response to that by Critias, who tells him that he's got a story" (00:02:06) Diese Falschdarstellung des Ablaufs des Dialogs wird wiederholt: "And then Socrates says, it would be wonderful if we could see this ideal state ... in action. ... And then Critias says, ... I have just the thing" (00:06:10)

Außerdem sagt Christopher Gill wiederholt, dass die Atlantisgeschichte "absolutely true" sei. Da ist z.B. Kritias, "who tells him that he's got a story which will be absolutely just right for what he wants." (00:02:06) Oder Kritias, der sagt: "Well, it's terrific that you said that, Socrates, because I have just the thing, he says, just the thing. You've kind of hit it on the mark, and Critias then comes up with this story" (00:06:10) Gill sagt auch, dass "Timaeus [Versehen, gemeint ist: Kritias] is terribly keen on pointing out, ... that the story was true. It was absolutely true. He's very keen on this." (00:23:17) – Leider sagt Kritias das nicht, nirgends in den Atlantisdialogen. Ganz im Gegenteil. Das vorzeitliche Athen ist nur eine Annäherung an den Idealstaat.

Christopher Gill will in der angeblichen Betonung einer "absolute truth" der Atlantis-Geschichte durch Kritias einen tieferen Sinn sehen. Er stellt sie in Kontrast zum Wahrheitsbegriff des Timaios, der laut Gill "[is] going to recount the foundation, the origin of the material world, the cosmos. And he says, this story cannot be completely true because it isn't about things that are amenable to exact truth. And for Plato, of course, the things that are amenable to exact truth are the form, and they can achieve truth as this is the ontology and epistemology of the Republic ... Whereas facts, you know, particular facts, material entities, are going to only approximate, they will only have a likeness to the truth. Therefore, his story, his creation story, which is of course hugely complicated and mythical, is just presented as an eikos mythos, as a likely story. So here we have these two contrasting statements. One person who says, Oh, this factual story is absolutely true, and another person who acknowledges that his account is only likely." (00:25:31)

Christopher Gill hat hier nicht gesehen, dass auch die Atlantisgeschichte des Kritias ein eikos mythos ist, der auf einer historischen Überlieferung beruht, und es wäre interessant zu wissen, was Gill mit dem Wort "mythical" sagen wollte. Christopher Gill widerspricht sich sogar selbst. Denn an anderer Stelle in diesem Podcast sagt Christopher Gill, "in the Atlantis story, we have an approximation or we have an instantiation of an ideal." (00:06:10) Also, keine absolute Wahrheit.

Gill meint, "Socrates isn't quite so bothered about it, that is, he ... makes rather equivocal comments about this. At one point he says, 'Oh, it's probably very important that story is true'. He says, the story is pammega, it's a big thing. It's really important, that's true, I suppose, he says. ... 'I suppose' is so very ironic. Very ambivalent, not ironic." (00:23:17) – Aber Sokrates sagt nicht "it's a big thing" und auch die Übersetzung mit "I suppose" ist sehr fragwürdig. Was Sokrates wirklich sagt, ist, dass ein mehr oder weniger wahrer logos besser ist als ein erfundener mythos, und damit stellt er den logos dem mythos, die Wahrheit der Erfindung gegenüber. Außerdem wird die Atlantisgeschichte als schriftliche historische Überlieferung ausdrücklich den mündlich überlieferten Mythen gegenübergestellt. Doch darüber schweigt Gill.

Über Kritias als den Erzähler der Atlantisgeschichte

Christopher Gill ist sich bewusst und gibt offen zu, dass der Dialogteilnehmer Kritias eher nicht der Tyrann Kritias ist: "we're not quite sure who he is. It might have been the so-called Critias the tyrant, or it might have been his grandfather. Now, chronologically, it's his grandfather, who had the same name, who works much better. He is a more chronologically credible link" (00:12:38) Die Erkenntnis, dass es sich möglicherweise nicht um den Tyrannen handelt, wird später im Podcast wiederholt: "Well, this is (laughter) one of the standing puzzles. Of course, maybe it's not him. Maybe it's his grandfather" (00:15:10) Aber Gill wiederholt auch, dass wir angeblich "know nothing about the grandfather" (00:12:38), und: "about whom we know nothing." (00:15:10) – Das ist nicht wirklich wahr. Wir wissen zumindest zwei oder drei Dinge über ihn. Er war ein Politiker, was in diesem Zusammenhang von Bedeutung ist, und er wurde einem Ostrakismos unterzogen, was uns ein Datum gibt, was ebenfalls von Bedeutung ist. Die wiederholte Behauptung, wir wüssten nichts, ist nicht gerechtfertigt.

Gill und der Interviewer setzen das Gespräch kurzerhand unter der Annahme fort, dass der Gesprächsteilnehmer Kritias der Tyrann ist, was seltsam ist. Aber Gill hat ein Argument dafür: "But certainly that name covers the character." (00:15:10) Was bedeutet: Auch wenn es sich nicht um den Tyrannen Kritias handelt, ruft der Name "Kritias" angeblich die Erinnerung an den Tyrannen hervor. – Dies ist eine unzulässige moderne Sichtweise, die einen Namen durch die berühmteste Person, die ihn trug, geprägt sieht, und die ignoriert, dass die antiken Menschen gewohnt waren, mit sich wiederholenden Namen zu leben. Es gibt z.B. auch einen jungen Aristoteles, der in einem von Platons Dialogen auftritt, aber nein, es ist nicht "der" Aristoteles, der berühmteste Schüler Platons, sondern ein anderer Aristoteles, und nein, dieser Aristoteles ruft keine Erinnerung an den anderen Aristoteles hervor.

Der Charakter des Kritias wird also in dunklen Farben gemalt: "Critias was one of the many followers of Socrates. But Critias went to the bad, and Critias ... he got involved in right-wing conservative political activities. He also quarrelled with Socrates, and he tried to involve Socrates in his own political dealings and tried to to incriminate him. Socrates refused. And then he also possibly tried to pass a law against people who engaged in philosophical argument. So he's a very dark and equivocal figure." (00:13:34) Christopher Gill bestätigt dem Interviewer: Das vorzeitliche Athen ist "pre-democratic Athens. Exactly. ... he tells just the sort of story that the Critias, the aristocrat, the pro-Spartan ... it's a very Spartan Athens, actually, by the way, that we see in the Timaeus and also in the Critias to some extent. So he's just the sort of person, conservative, backward looking elitist who would be attracted to that kind of story and who tells it in that way with that kind of focus, focus on family, focus on nation, focus on the past as in a kind of political way." (00:16:48) – Das mag für Kritias den Tyrannen zutreffen, aber nicht für Kritias den Dialogteilnehmer. Außerdem ist das vorzeitliche Athen kein "vordemokratisches" Athen, sondern eine Annäherung an Platons Idealstaat, der weder aristokratisch noch demokratisch ist. Und es ist vor allem nicht das aristokratische Athen der Vergangenheit, sondern liegt in der fernen Vergangenheit, bevor die Flut alles zerstörte; es liegt aber auch in der Zukunft als zu erreichendes Ideal. Platons Vorstellung von Geschichte ist zyklisch. Christopher Gill bringt dies hier durcheinander.

Gill will sogar einen Unterschied im Charakter des Dialogteilnehmers Kritias im Timaios und desselben Dialogteilnehmers Kritias im Dialog Kritias sehen: "Now, what's clear is that the Critias of the Timaios is on a quite different wavelength from Socrates" (00:25:31) Gill sieht einen weiteren Unterschied zwischen den beiden Charakteren desselben Kritias hinsichtlich ihrer Perspektive auf die Atlantisgeschichte: "He's ... there as a kind of voice of conservatism, especially in the Timaeus. But in the Critias, he's rather different." (00:16:48; vgl. auch 00:15:10) – Es mag zwar in den beiden Dialogen eine andere Erzählperspektive geben, aber am Ende bilden sie zusammen eine einzige Geschichte, die frei von solchen Widersprüchen ist.

Last but not least verstrickt sich Christopher Gill in einen großen Selbstwiderspruch. Wie wir bereits gesehen haben, sagt er: "we do have philosopher rulers in the Atlantis story in the Timaeus and Critias because Socrates when he is discussing his interlocutors, he characterizes all of them as people who have expertise in both philosophy and politics. And that's why they are good people to tell his story." (00:10:00) – Also, auch Kritias ist im Kontext der Atlantisdialoge eindeutig ein Philosoph. Wie kann er dann ein Tyrann sein? Und wie kann er dann vom rechten Weg abgewichen sein? Das alles ergibt keine schlüssige Perspektive.

Lächerlichmachung der 9000 Jahre und anderer Aspekte

Christopher Gill erkennt an, dass die Idee des zyklischen Katastrophismus eine Grundlage in der griechischen Mythologie hat: "the flood of Deucalion is a well-established feature of Greek myth. And of course, if you think back to the Theogony, the idea of destruction and periodic destruction is ... embedded there. I think the Greeks were aware that there were periodic floods and so forth." (00:20:06) Er räumt auch ein, dass Platon seinen Kopf nicht nur in den Wolken seiner Ideen, sondern auch ein echtes Interesse an der Geschichtsschreibung hatte, sogar an dem Prozess der Überlieferung historischer Informationen im Laufe der Zeit: "So he is quite prepared to accept that quite a lot about material reality is, you know, is poor or is subject to contingency or is affected by circumstances. So I can see why he might be attracted to it. I think that's one factor. I think the other is that Plato is interested in what you might call early historiography. He is interested in the process of transmission of the past and how we learn about it. I mean, that comes out both from the Critias and from book 3 of The Laws, which is rather in some ways a kind of sequel, I think, to the Critias story. And in the Critias, for instance, he refers to ... soil erosion, evidence of deforestation, evidence of drying up of streams. So he's interested in that. He is interested in probing the past." (00:20:06)

Doch dann geht Christopher Gill überraschenderweise von der Ernsthaftigkeit zur Lächerlichmachung über: "[The Critias in] the Timaeus tells what is really a fantastic story that one can have an accurate description of a historical event that was 9,600 years before. I mean, no one else in Athens would have thought that was remotely possible. If you look at what fifth century historians were doing, the great founders of history, Herodotus and Thucycides, they were spending great efforts to reconstruct events which were ... either contemporary ... or ... just earlier in the same century." (00:21:54) "Now, what we have in the Atlantis story is ... presented as if, gosh, we have every detail. That's why it really you know, that's why the presentation of this by Critias in the Timaeus is so ridiculous, absurd really." (00:23:17) Und auch der Prozess der Überlieferung von historischen Informationen wird lächerlich gemacht: "there's a lot of sort of folderol about it, having come from his family and so on." (00:06:10)

Was macht Christopher Gill hier? Erst erklärt er ein ernsthaftes Interesse an all diesen Dingen von seiten Platons, aber dann macht er alles lächerlich! Ein Grund dafür mag sein, dass Gill zutiefst nicht verstanden hat, dass die Atlantisgeschichte keineswegs lächerlich ist. Während Gill behauptet, "no one else in Athens would have thought that was remotely possible" [to] "have an accurate description of a historical event that was 9,600 years before", hätte ein einfacher Blick in die Historien des Herodot genügt. Denn Herodot schreibt, dass Ägypten 11.340 Jahre alt (und älter) ist, und trotzdem berichtet Herodot über Ereignisse aus der ägyptischen Geschichte – wie auch Platon in der Atlantisgeschichte! Gill hat im Grunde nicht verstanden, dass Platon wirklich an der Vorgeschichte interessiert war und dass es nur logisch war, im viel älteren Ägypten ein Fenster zur fernen Vergangenheit zu sehen. Daran ist nichts Lächerliches. Und das falsche Alter Ägyptens von mehr als 11.000 Jahren ist keine Erfindung, sondern ein Irrtum, der zu Platons Zeiten üblich war. Man wusste damals einfach nicht, dass Ägypten erst um 3.000 v.Chr. gegründet worden war. Da die 9.000 Jahre auf eine Zeit nach der Gründung Ägyptens hinweisen, deutet dies in Wahrheit auf eine Zeit nach 3.000 v.Chr. hin. Und das gilt selbst dann, wenn Platon das alles erfunden hat, denn das war seine Sicht auf die Geschichte. Später verweist Gill auf die Nomoi als einen "philosophischeren" Ansatz als die "lächerliche" Atlantis-Geschichte (00:37:41), aber auch in den Nomoi spricht Platon davon, dass Ägypten 10.000 Jahre alt und älter ist.

Das gleiche Schema des Lächerlichmachens wiederholt sich bei der Größe von Atlantis, die als "ridiculously big" (00:27:02) beschrieben wird, und beim Untergang von Atlantis innerhalb eines einzigen Tages und einer Nacht: "And then in a single day (laughter), there was a big earthquake and flood, and the Athenian army vanished beneath the earth, was swallowed up by the earth ... another, somewhat (laughter) implausible detail. And then the island of Atlantis was also swallowed up." (00:27:49) Der Interviewer sagt: "Implausible, but also bizarre." Und Gill bestätigt, indem er wiederholt: "Bizarre." (00:28:38)

Aber in Wahrheit gibt es hier nichts Lächerliches, Unplausibles oder Bizarres. Lächerlich, unplausibel oder bizarr ist es nur in den Augen des modernen Lesers, der mehr weiß, als zu Platons Zeiten bekannt war. Der moderne Leser weiß: So kann es nicht sein, während es für die Antike glaubwürdig war. Normalerweise wird eine solche Situation durch historische Kritik aufgelöst. Platon hat weder gelogen noch hat er solche Dinge erfunden, aber er hat sich darüber geirrt, und der moderne Wissenschaftler hat die Aufgabe herauszufinden, worauf er wirklich hinauswollte, was wirklich gemeint war, obwohl die antiken Menschen selbst diese Irrtümer nicht erkannten. Aber Christopher Gill flüchtet sich in das einfachste und unplausibelste Argument: Es ist lächerlich und bizarr. Aber die 9.000 Jahre sind nicht bizarr, wie wir gesehen haben, sie stellen nur einen weit verbreiteten Irrtum dar. Und ist nicht die Stadt Helike in einer einzigen unglücklichen Nacht untergegangen und verschwunden? Es ist nicht bizarr, dass Platon ein solches Ereignis für real hielt.

Und man beachte, dass Gill immer ein Lachen einstreut, wenn er etwas für lächerlich erklärt. Dies ist nicht nur ein Kommentar von Gill zu seiner eigenen Meinung, sondern auch ein rhetorisches Mittel: Durch das Lachen erhält der Zuhörer auch auf einer emotionalen Ebene die Botschaft, dass es angeblich lächerlich ist. Es ist eine Methode der Überzeugung, aber ohne Argumente. Platon hätte das nicht gefallen.

Andere Themen

Auf die Frage nach den ersten Worten von Platons Dialog Timaios: Eins, zwei, drei, und dann sagt Sokrates: Wo ist der vierte?, sagt Christoph Gill nur: "To be honest. I don't really ... Now, there's just so little to go on. It is a real puzzle. So who knows?" (00:18:14) – Hier gibt es eine Menge Spekulationen und Gill hätte ein oder zwei Hypothesen präsentieren können. Aber er tut es nicht.

Wie viele andere folgt auch Christopher Gill der falschen Interpretation, dass Atlantis aktiv mit anderen Ländern Handel trieb und so der Dekadenz erlag (letzteres wird von Gill jedoch nicht ausdrücklich gesagt): "they could then transmit through this canal system, the goods and the metals, the precious metals and the agricultural goods and everything else down to the port, and so trade with it. And so this is all about exploitation, if you like, of the land and the resources and of its wealth." (00:30:18) – In Wahrheit wird nur gesagt, dass die Waren in die Hauptstadt verschifft werden, aber von Handel mit ihnen ist nicht die Rede, und schon gar nicht davon, dass atlantische Schiffe in andere Länder fahren, um Handel zu treiben. Das Gegenteil ist der Fall: Die Schiffe der anderen Länder kommen nach Atlantis, um Handel zu treiben. Platons Botschaft ist vielmehr, dass die Waren in die Hauptstadt verschifft wurden, um dort konsumiert zu werden und so luxuriösen Reichtum zu schaffen. – Christopher Gill präsentiert hier dieselbe falsche Interpretation des Niedergangs von Atlantis wie Maximilien-Henri de Saint-Simon, der Onkel von Henri de Saint-Simon, einem der berühmtesten Begründer der politischen Ideologie des Sozialismus. Wir haben Grund zu der Annahme, dass Henri de Saint-Simon stark von diesem Onkel beeinflusst wurde, und deshalb können wir diese Lesart als die "sozialistische Lesart" der Atlantisgeschichte bezeichnen.

Als der Interviewer Christopher Gill zweimal zu einer Aussage drängt, dass die Vermischung von göttlichem und menschlichem Blut bei den Königen von Atlantis bedeuten würde, dass sie "interbred with lesser races", oder "Sort of philosophical eugenics", weist Christopher Gill diese modernen Ideen sanft mit "I don't know. I don't know." zurück (00:35:25) – Das ist sehr richtig. Die Vermischung von Göttern mit Menschen kann aus Platons Sicht nicht als Chiffre für Rassismus gedeutet werden. Dies ist nur eine moderne Perspektive.

Christopher Gill erzählt immer wieder, dass Atlantis eine große Flotte hatte. (00:27:02; 00:27:49) – Das ist richtig, aber Atlantis war auch eine beeindruckende Landmacht. Dies sollte nicht vernachlässigt werden. Atlantis ist nicht nach dem Vorbild der Seemacht Athen zu Platons Zeiten gestaltet.

Als der Interviewer nach dem Dialogteilnehmer Timaios fragt, sagt Christopher Gill: "No, he's almost certainly made up." Und: "He's made up and he's made up to be." (00:11:49) – Wir können uns nur wundern, wie leicht Gill dies sagt. Es ist nicht üblich, dass Dialogteilnehmer in Platons Dialogen erfunden sind, und schon gar nicht, wenn sie so wichtige Dinge zu sagen haben wie Timaios.

Wie viele andere sagt auch Christopher Gill immer wieder über das Ende des Dialogs Kritias: "Plato breaks off in mid-sentence." (00:02:06) Und: "And then, just as the war would have begun, it breaks off, absolutely in mid-sentence, in complete surprise." (00:36:32) – Aber das ist nicht wirklich wahr. Der Text bricht genau in dem Moment ab, in dem der Gott Zeus eine Rede halten sollte. Es ist also nicht wirklich mitten im Satz.

Zu der Frage, warum Platon den Dialog Kritias nicht beendet hat, sagt Christopher Gill: "But in a way, perhaps it isn't such a surprise, because as I say, we have got the nub of what Socrates originally wanted. We've got this contrast between these two states, and we've seen where it's leading. So what's Plato spares himself (laughter) is a long and complicated and perhaps rather tedious narrative of events, which ... maybe his heart wasn't in the end, really in it. I mean, he's not an epic poet." (00:36:32) – Das heißt, Gill folgt hier der Idee von Pierre Vidal-Naquet, dass im Grunde alles gesagt wurde, was gesagt werden musste, und der Idee, dass die Ausführung der projektierten Geschichte keine weiteren Erkenntnisse bringen würde. (Gleichzeitig folgt Gill nicht der Idee von Pierre Vidal-Naquet, dass Platon ein epischer Dichter sein wollte, besser als Homer. Aber das ist einer der vielen Selbstwidersprüche auf Seiten von Pierre Vidal-Naquet, nicht auf Seiten von Christopher Gill.)

Was die Rezeptionsgeschichte betrifft, so schweigt der Podcast ziemlich. Gill sagt nur: "There are no occurrences of the myth before Plato and all later mentions of the myth in antiquity, in modern times, basically go back to him." (00:01:13) – Das ist nicht falsch, vielleicht abgesehen von Krantors Zeugnis, aber nicht ausreichend. Es ist unumgänglich, über die Rezeptionsgeschichte zu sprechen. Denn die meisten antiken Autoren haben wirklich geglaubt, dass die Atlantisgeschichte eine wahre Geschichte ist! Und Christopher Gill wiederholt auch nicht mehr, dass Aristoteles sich angeblich explizit gegen die Existenz von Platons Atlantis ausgesprochen hat, wie er es fälschlicherweise so oft tat. Zumal der Interviewer ein Spezialist für den Neuplatonismus ist und es in dem Podcast um The Secret History of Western Esotericism geht, ist es auffällig, dass über die Rezeptionsgeschichte nicht gesprochen wird.

Schluss

Dieser Podcast ist eine sehr gute Gelegenheit, die Stärken und Schwächen von Christopher Gills Hypothese zu Platons Atlantis zu untersuchen. Christopher Gill weiß sicherlich mehr über das Thema als viele andere und tappt nicht in jede Falle, in die so viele andere leichtfertig gerannt sind. Dennoch bleiben wesentliche Fragen ohne eine gute Antwort. Schließen wir mit dem folgenden kleinen Dialog aus dem Podcast: Auf die Frage des Interviewers "Do you get the feeling that Plato is putting it there as a puzzle?", antwortet Christopher Gill: "Of course. Plato is always doing things like that. But what the answer to the puzzle is, I'm afraid I don't know." (00:18:22)



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