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Rezension zu: Not Exactly Atlantis: Some Lessons from Ancient Mediterranean Myths, von Carolina López-Ruiz 2022.

Rezensiert von: Thorwald C. Franke 13. Juli 2022.

Bibliographische Angaben: Carolina López-Ruiz, Not Exactly Atlantis: Some Lessons from Ancient Mediterranean Myths, Kapitel 2 in: Manuel Álvarez-Martí-Aguilar / Francisco Machuca Prieto (Hrsg.), Historical Earthquakes, Tsunamis and Archaeology in the Iberian Peninsula, proceedings of the International Congress "Historical Tsunamis in the Iberian Peninsula" in Malaga Februar 2019, Reihe: Natural Science in Archaeology, Verlag Springer Nature, Singapur 2022; S. 19-36.



Der Artikel "Not Exactly Atlantis" ist der erste Artikel in einen Konferenzband zum Thema antiker Naturkatastrophen auf der iberischen Halbinsel. Offenbar sollte der Artikel die Funktion haben, einleitend das "weiche" Thema von antiken Mythen über Naturkatastrophen vorzustellen, bevor sich die anderen Artikel der "harten" Realität echter Naturkatastrophen widmen. Ein Schwerpunkt wird dabei auf Platons Atlantis gesetzt, das manche in Tartessos vermutet haben.

Guter Ansatz, aber ...

Es wird vergleichsweise viel Aufwand betrieben, um zu demonstrieren, dass Tartessos nicht Atlantis war und Atlantis überhaupt nicht existierte. Diese Aussage war Carolina López-Ruiz offenbar besonders wichtig, wie es nicht zuletzt in den "Final Remarks" zum Ausdruck kommt. Es geht gewissermaßen darum, den Gedanken an Atlantis als einen realen Ort "loszuwerden". Doch diese Schwerpunktsetzung führte dazu, dass der Artikel zwei Themen enthält, die relativ unverbunden nebeneinander stehen: Traditionelle Mythen im allgemeinen, und Platons Atlantis, das kein traditioneller Mythos ist. Es wäre besser gewesen, zwei Artikel zu schreiben.

Wir konzentrieren uns im folgenden auf die Aussagen zu Platons Atlantis.

Wir müssen zunächst zustimmen: Tartessos war nicht Atlantis, und zwar aus einer ganzen Reihe von Gründen nicht. Ja, es stimmt: Die meisten Atlantisbefürworter sind nicht dazu in der Lage, Platons Atlantisgeschichte richtig zu lesen. Sie bauen auch keine hinreichend überzeugenden Argumentationsketten auf – von Platon über Ägypten bis zu Tartessos – um zu zeigen, dass Tartessos Atlantis war. Außerdem existerte Tartessos viel zu spät. Tartessos könnte in der Tat höchstens eine Inspiration für die Erfindung von Atlantis gewesen sein. Aber es gibt viel naheliegendere Inspirationen für eine Erfindung, wie Carolina López-Ruiz richtig bemerkt (S. 20 f.).

Doch hier stutzen wir: Die zu Tartessos genannten Autoren (S. 19) haben niemals behauptet, dass Tartessos Atlantis war. Adolf Schulten ging immer davon aus, dass Tartessos nur eine Inspiration für Atlantis war. Mehr haben auch García y Bellido oder Celestino nicht behauptet. Auch Rainer W. Kühne sah Tartessos nur als Inspiration (auch wenn das nicht immer deutlich wurde). Es wäre angebracht gewesen, deutlich zu machen, dass die genannten Autoren Tartessos nicht als Atlantis sahen, und außerdem jene mit Namen zu nennen, die die Behauptung aufstellten, dass Tartessos tatsächlich Atlantis war.

Wir stutzen aber auch, weil die Autorin wissenschaftliche Bemühungen zur Erforschung der Möglichkeit, dass Atlantis ein realer Ort war, pauschal abtut: Es handele sich um eine pseudo-archäologische bzw. para-wissenschaftliche Hypothese (S. 19 f.), denn "Atlantis was a figment of Plato's imagination" (S. 20), und "The discussion of Atlantis as a real place is a methodological catastrophe" (S. 21). Dem können wir nicht zustimmen. Man kann das, was z.B. ein Wilhelm Brandenstein, ein Massimo Pallottino oder ein John V. Luce über Atlantis als einen womöglich realen Ort geschrieben haben, nicht einfach mit dem Wort "methodological catastrophe" abtun. Offenbar kennt Carolina López-Ruiz diese Autoren nicht. Für sie gibt es nur dumme Atlantisbefürworter und kluge Atlantisskeptiker. Dazwischen ist nichts. Das ist nicht akzeptabel. Denn das ist nicht die Realität.

Wir müssen aber fair sein: Vermutlich kennt Carolina López-Ruiz diese Autoren tatsächlich nicht. Die Wissenschaft hat sich leider nicht allzu sehr bemüht, deren Thesen ernst zu nehmen und bekannt zu machen. Carolina López-Ruiz ist damit ein weiteres Opfer der vorherrschenden Erfindungsthese zu Platons Atlantis. Und diese vorherrschende Erfindungsthese ist ebenso eine Katastrophe wie die meisten Existenzthesen, wie wir im folgenden Punkt für Punkt an den Fehlern zeigen werden, die Carolina López-Ruiz von den Autoren der vorherrschenden Erfindungsthese übernommen hat, offenbar vor allem von Pierre Vidal-Naquet und Diskin Clay.

Der zentrale Fehler

Der zentraler Fehler ist die Einordnung von Platons Atlantisgeschichte als Mythos (S. 21). Doch die Atlantisgeschichte ist weder ein (künstlich erfundener) traditioneller Mythos noch wird sie von Platon als mythos bezeichnet. Sondern im Gegenteil: Platon bezeichnet die Atlantisgeschichte explizit als logos und nicht als mythos, und sie wird als eine schriftliche Überlieferung aus Ägypten den bloß mündlich überlieferten Mythen der Griechen entgegengesetzt. Doch wie viele Autoren hat Carolina López-Ruiz nicht gesehen, dass es parallel zur mündlichen Überlieferung aus Ägypten (S. 22) auch eine schriftliche Überlieferung aus Ägypten gibt. Die Atlantisgeschichte ist also nicht einfach vergleichbar mit dem Platonischen Er-Mythos oder mit dem Platonischen Protagoras-Mythos, die beide von Platon explizit als mythos bezeichnet werden.

Aber auch die sogenannten Platonischen Mythen sind nicht einfach Mythen. Ein mythos ist nicht dasselbe wie ein Mythos, wie wir "Mythos" heute verstehen. Anders als Carolina López-Ruiz meint (S. 22), ist es von höchster Bedeutung, ob Platon die Geschichte von Er einer pythagoreisch-orphischen Überlieferung entnahm und damit mehr oder weniger ernst nahm, oder ob er sie einfach frei erfunden hat. Auch der Platonische Protagoras-Mythos von der Entwicklung der Kultur ist nicht einfach eine "freie" Erfindung ("free account"; S. 22). Sowohl Heinz-Günther Nesselrath als auch Bernd Manuwald meinen, dass es sich tatsächlich um eine Geschichte handelt, die von Protagoras erzählt wurde. Zudem taucht eine sehr ähnliche Geschichte erneut im Platonischen Politikos-Mythos auf: Offenbar war es Platon durchaus ernst damit. Nicht zuletzt tauchen in sogenannten Platonischen Mythen auch höchst reale Sachverhalte auf, so z.B. im Platonischen Phaidon-Mythos die weltweit erste Erwähnung der Tatsache, dass die Erde eine Kugel ist.

Die Autorin verheddert sich hier auch in Selbstwidersprüche. Nachdem sie erklärt hat, dass man die Atlantisgeschichte wie einen traditionellen Mythos lesen sollte (S. 21), erklärt sie nur eine Seite später, dass Platon traditionelle Mythen scharf kritisierte und deshalb eigene Mythen erfand. Platonische Mythen sind also keine traditionellen Mythen, und wie wir schon sagten: Nicht jeder mythos ist ein Mythos. – Außerdem stellt sich die Frage, warum Platon seine Platonischen Mythen frei erfunden haben soll: Denn sein Hauptkritikpunkt an den traditionellen Mythen bestand darin, dass diese nicht wahr sind – sind denn erfundene Mythen wahrer?! Hier wurde vieles nicht zu Ende gedacht. Wir müssen aber zugeben: Carolina López-Ruiz ist mit diesen Widersprüchen nicht allein. Am Thema der Platonischen Mythen sind viele gescheitert.

Fiktionalität oder moderne Projektion von Fiktionalität?

Es ist auch keineswegs so, dass schon zu Hesiods Zeiten "the alliance between the fictional and the real" eine klare Sache gewesen wäre (S. 21). Hier überspringt die Autorin viele Jahrhunderte der literarischen Entwicklung, die erst lange nach Platon in der Hervorbringung des historischen Romans gipfeln wird. Es ist einfach falsch, dass Platons Zeitgenossen die Atlantisgeschichte wie einen Roman gelesen hätten. Wenn es eine Erfindung wäre, wäre es als eine Täuschung aufgefasst worden, sofern sie überhaupt als Erfindung erkannt wurde. Etabliert waren zu Platons Zeit nur bestimmte literarische Formen der Fiktion. Sokratische Dialoge waren z.B. eine etablierte Form der Fiktion, und damit auch das Berichten eines Sokratischen Dialoges als angeblicher Augenzeuge (S. 22). Doch die Fiktionalität des literarischen Rahmens überträgt sich nicht auf die Inhalte der Dialoge. Zudem irritiert es, dass die Autorin schreibt "Plato deceives us" (S. 22), wo es doch um Fiktionalität gehen soll, die ja eben gerade keine Täuschung ist (kein Romanleser fühlt sich vom Romanautor getäuscht, sobald der Roman als literarische Form etabliert ist). Es irritiert auch, dass die Autorin viele Seiten später Platons Atlantisgeschichte in einem Atemzug mit Hesiods Geschichten nennt, denen sie soeben reale Hintergründe zugebilligt hat (S. 29).

Die Autorin irrt sich auch bezüglich angeblicher Fiktionssignale. So schreibt sie z.B. bezüglich der 9000 Jahre von Atlantis: "The temporal remoteness of the story ... makes its historicity inconceivable (S. 23). Das ist aber ein großer Irrtum. Denn alle griechischen Autoren irrten sich gemeinsam über das Alter Ägyptens, angefangen mit Herodot, der Ägypten für 11340 und noch mehr Jahre alt hielt. In Wahrheit wurde Ägypten natürlich erst um 3000 v.Chr. gegründet. Aber das wusste Platon nicht. Und seine Zeitgenossen wussten es auch nicht. Damit zeigt die Angabe von 9000 Jahren auf einen Zeitpunkt nach der Gründung von Ägypten, also nach 3000 v.Chr. (Das gilt auch dann, wenn Atlantis eine Erfindung ist.) Völlig richtig beobachtet hat Carolina López-Ruiz, dass Platon die ägyptische Kultur als eine uralte Kultur präsentiert, die altes Wissen bewahrt hat (S. 23) – doch Platon präsentierte Ägypten nicht nur so, er glaubte auch wirklich an das, was er schrieb.

Auch in anderen Punkten projiziert die Autorin ihr modernes Weltwissen in antike Zeiten, ohne zu bemerken, dass die antiken Menschen davon nichts wissen konnten. So nennt sie den Platonischen Er-Mythos "unlikely" (S. 22). Das mag für uns moderne Menschen so sein, für die antiken Menschen war es keineswegs "unlikely". Wir wissen heute, dass Nahtoderfahrungen sich nach kulturellen Erwartungshaltungen formen. Die Geschichte von Er könnte deshalb einen wahren Kern haben, der von antiken Menschen völlig ernst genommen wurde. – Ebenso falsch ist es, die von Platon beschriebene Erosion in Athen als ein Zeichen dafür zu nehmen, dass er das erfunden hat (S. 24). Das Gegenteil ist der Fall: Das war völlig ernst gemeint, wir haben es hier mit der ersten Theorie zur Bodenerosion zu tun, so irrig sie auch im Detail ist. – Es ist auch ganz falsch, den Umstand, dass Ur-Athen ungefähr dem Idealstaat Platons entsprach, als Fiktionssignal zu werten (S. 24). Denn natürlich glaubte Platon daran, dass es seinen Idealstaat im Rahmen seines zyklischen Geschichtsbildes schon einmal gegeben hat. Das sagt er explizit in der Politeia. Vor allem aber glaubte Platon an die Richtigkeit seiner eigenen Philosophie: Natürlich war ein solcher Staat für ihn real denkbar.

Es ist auch falsch, dass Platon Ur-Athen deshalb untergehen lassen würde, damit man nichts mehr von der Fiktion finden könnte (S. 24). Denn Platon versucht in den Atlantisdialogen eifrig in dem Athen seiner Zeit Überbleibsel und Spuren des damaligen Athen aufzuzeigen. Ebenso ist es falsch, dass Atlantis ohne eine Spur zu hinterlassen verschwand (S. 20). Denn zurück blieb der Schlamm im Meer, an dessen Existenz u.a. auch Aristoteles glaubte. Aber mehr noch: Die wichtigste Spur, die blieb, sind natürlich die ägyptischen Aufzeichnungen in Sais, und das war für Griechen kein unerreichbarer Ort. Krantor soll die Atlantisgeschichte später in Ägypten bestätigt gefunden haben – wir wissen natürlich nicht, ob das stimmt, aber die Behauptung existiert.

Sehr viele weitere Fehler

Im folgenden wollen wir eine große Zahl weiterer Fehler zu Platons Atlantis im Schnelldurchlauf durchgehen, die das typische Chaos der Erfindungsthese repräsentieren:

Zuletzt deutet Carolina López-Ruiz Atlantis auch als eine Anspielung auf Karthago und vielleicht auch als Syrakus (S. 33 f.). Das sind interessante Ansätze, doch sie wurden schon von früheren Autoren verfolgt. Es wäre hilfreich gewesen, diese früheren Autoren zu nennen. – Last but not least fehlt neben den Werken ernsthafter Atlantisbefürworter mindestens eine wichtige Literaturangabe, nämlich "Where the Lord of the Sea Grants Passage to Sailors through the Deep-Blue Mere No More – The Greeks and the Western Seas" von Heinz-Günther Nesselrath 2005.

Fazit

Es ist seltsam: Carolina López-Ruiz ist gewiss eine gute Altertumswissenschaftlerin. Auch waren ihre Absichten mit diesem Artikel richtig und gut. Dennoch hat sie mit Platons Atlantis kompletten Schiffbruch erlitten. Warum ist das so? Der Grund ist, dass dieses Thema von ihren Kollegen in der Wissenschaft nicht ordentlich bearbeitet wurde, so dass sie nur morsches Garn zum weben vorfand. Carolina López-Ruiz ist ein weiteres Opfer des beklagenswerten Zustandes der Wissenschaft zur Frage nach Atlantis.

Bibliographie

Brandenstein (1951): Wilhelm Brandenstein, Atlantis – Größe und Untergang eines geheimnisvollen Inselreiches, Heft 3 aus der Reihe: Arbeiten aus dem Institut für allgemeine und vergleichende Sprachwissenschaft Graz, herausgegeben von Wilhelm Brandenstein,Verlag Gerold & Co., Wien 1951 Franke (2021): Thorwald C. Franke, Platonische Mythen – Was sie sind und was sie nicht sind – Von A wie Atlantis bis Z wie Zamolxis, Verlag Books on Demand, Norderstedt 2021.

Luce (1978/1979): John V. Luce, The Literary Perspective – The Sources and Literary Form of Plato's Atlantis Narrative, in: Edwin S. Ramage (Hrsg.), Atlantis – Fact or Ficton?, Indiana University Press, Bloomington/London 1978; S. 49-78. – Deutsche Erstausgabe: Die literarische Perspektive – Die Quellen und die literarische Form von Platons Atlantis-Erzählung, in: Edwin S. Ramage (Hrsg.), Atlantis – Mythos, Rätsel, Wirklichkeit?, Umschau-Verlag, Frankfurt am Main 1979; S. 65-101.

Nesselrath (2005): Heinz-Günther Nesselrath, Where the Lord of the Sea Grants Passage to Sailors through the Deep-Blue Mere No More – The Greeks and the Western Seas, in: Greece & Rome Second Series Vol. 52 Nr. 2 (2005); S. 153-171.

Pallottino (1952): Massimo Pallottino, Atlantide, in: Archeologia classica Nr. 4 (1952); S. 229-240.



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