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Rezension: Lost Knowledge – The Concept of Vanished Technologies and other Human Histories, von Benjamin B. Olshin 2019.

Rezensiert von Thorwald C. Franke, Atlantis Newsletter Nr. 148 (30. Oktober 2020). Dank geht an den Verlag Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande, der dieses Buch freundlicherweise für eine Rezension zur Verfügung stellte, und an Oliver D. Smith, der meine Aufmerksamkeit auf dieses Werk lenkte.

Bibliographische Angaben: Benjamin B. Olshin: Lost Knowledge – The Concept of Vanished Technologies and other Human Histories, Band 16 der Reihe: Technology and Change in History, hrsgg. von Brill, Leiden und Boston 2019. 458 Seiten. ISBN 9789004352711. $179,00. €149,00.



Im 16. Band der von Brill herausgegebenen Reihe "Technology and Change in History" untersucht Benjamin B. Olshin ein faszinierendes Thema: Er identifiziert antike Texte über noch ältere und angeblich "verlorene" Zivilisationen und über das mit ihnen verlorene technologische Wissen. Olshin konzentriert sich auf Texte, die Informationen enthalten, die nach unserem modernem Verständnis seltsam und unmöglich für diese alten Zeiten erscheinen. Der Schwerpunkt wird auf das korrekte Verstehen solcher Texte gelegt. Statt sie nach einfachen modernen Kategorien wie Fakten versus Fiktionen zu beurteilen, fragt Olshin, welche Bedeutung diese seltsamen Texte für ihre Autoren und Leser im Kontext ihrer Zeit hatten, und welches Verständnis von Geschichte, Wissensbewahrung und Wissenstransfer die antiken Autoren hatten.

Der Band beginnt mit einem Vorwort und einem einleitenden ersten Kapitel, in dem der Ansatz und die zu untersuchenden Fragen vorgestellt werden. Dann folgen mehrere Kapitel mit Fallstudien: Asiatische Geschichten von Flugmaschinen, Geschichten über Zauberspiegel aus China und von anderen Orten, Platons "verlorenes" Atlantis und schließlich Platons Geschichte vom Ring des Gyges. Dann ein Kapitel, das bestimmte immer wieder vorkommende Konzepte zusammenfasst: Verschlüsselung und Speicherung von Wissen, Wissenstransfer über die Zeit hinweg, die Rolle des Mythos, Verlust und Veränderung von Wissen. In einem abschließenden Kapitel werden die wichtigsten Schlussfolgerungen gezogen: "What did they mean?", also: Was meinten die antiken Autoren? Der Band ist mit einer umfangreichen Bibliographie von etwa eintausend Einträgen, einem Namens- und Themenregister und einem Abbildungsverzeichnis ausgestattet. Anmerkungen sind als Fußnoten am Fuß jeder Seite angebracht, was sehr hilfreich ist.

Die Forschung von Olshin ist faszinierend und wichtig zugleich. Da ist diese exotische Seltsamkeit antiker Texte, in denen von verlorenen Technologien die Rede ist. Eine exotische Seltsamkeit, die viele Pseudohistoriker und Pseudoarchäologen dazu inspiriert hat, über Dinge zu spekulieren und nach Dingen zu suchen, die nie existiert haben. Olshin bringt diese Spekulationen vom Himmel zurück auf die Erde: Es ist uns nicht erlaubt, moderne Konzepte in antike Texte zu projizieren, sondern wir müssen diese Texte im Kontext ihrer eigenen Zeit verstehen: Was meinten sie wirklich? Welchen Konzepten, die offensichtlich im Widerspruch zu unseren modernen Konzepten stehen, sind sie gefolgt? Diese Fragen sind von größter Bedeutung, und die von Olshin betriebene Forschung verdient unsere nachdrückliche Unterstützung.

Der sorgfältige Leser wird immer wieder auf eine Stärke und eine Schwäche von Olshins Werk stoßen: Auf der einen Seite ist Olshin in der Lage, erfrischend neue und hilfreiche Fragen zur Bedeutung alter Texte zu stellen. Fragen, die von anderen Gelehrten, die traditionelleren Denkrichtungen folgen, selten gestellt werden. Olshin ist auch in der Lage, traditionelle Positionen direkt zu hinterfragen. – Auf der anderen Seite fehlt Olshins Überlegungen oft eine gründliche Systematisierung. Dennoch sollten wir, wie bei allen innovativen Arbeiten, das Neue lieber begrüßen als die Unvollkommenheiten zu kritisieren.

Vorwort und einführendes Kapitel

Das Vorwort und das erste einführende Kapitel stellen das zu untersuchende Thema nicht systematisch dar. Immer wieder stolpert der Leser über den Satz "Dieses Buch konzentriert sich auf ...", aber jedes Mal wird ein etwas anderer Schwerpunkt gesetzt. Verschiedene Unterscheidungen und Kategorisierungen werden nicht systematisch diskutiert: Was für uns unglaublich ist, war für die Alten nicht unbedingt unglaublich: Warum konzentriert man sich dann nur auf "seltsame" Texte? Für die Alten gab es diesen Unterschied von seltsam und nicht-seltsam nicht. Indem der Autor sich auf die seltsamen Texte konzentriert, tut er genau das, was er vermeiden will: Er projiziert moderne Konzepte in antike Texte hinein. – Einige Überlieferungen antiken Wissens sind keine echten Überlieferungen, ob seltsam oder nicht-seltsam, doch einige sind es doch: Es gibt auch echte Überlieferungen wirklichen Wissens, auch wenn sie seltsam sind. – Seltsamkeit kann zwei Quellen haben: Entweder Fehler und Irrtum und Missverständnis im weitesten Sinne oder Erfindung und Fälschung. Aber auch seltsame Überlieferungen können falsch und / oder verfälscht sein. – In antiken Texten gibt es nicht nur Informationen, die vom Autor beabsichtigt sind, sondern auch Informationen, die nicht vom Autor beabsichtigt wurden, aber dennoch vorhanden sind. – Das Konzept des Mythos ist ein schillernder Begriff: Was wir heute als Mythos bezeichnen, mag für die Alten kein Mythos gewesen sein. Daher kann es falsch sein, einen Mythos als Mythos zu bezeichnen. Und selbst wenn ein Mythos ein Mythos ist, gibt es viele unterschiedliche und widersprüchliche Definitionen von Mythos, die so früh wie möglich in der Diskussion deutlich gemacht werden müssen. – Außerdem sind Magie und Mythos nicht dasselbe und müssen gründlich voneinander getrennt werden. – Schließlich kann die "philosophical discussion" nicht wie Mythos oder Magie behandelt werden. Philosophische Diskussionen sind genau das, was die Wissenschaft und die modernen Konzepte des Wissens hervorgebracht hat. Es ist seltsam, sie zusammen in einer Liste mit "folktales" (S. 11) erwähnt zu sehen.

Alles in allem wird hinreichend deutlich, auf was der Autor abzielt, aber eine systematische Diskussion, vielleicht mit einer Tabelle von Kategorien, wäre hilfreich gewesen, und einige der Mängel in den folgenden Analysen sind auf eine von Anfang an fehlende Systematisierung zurückzuführen.

Es ist zudem nicht wirklich wahr, dass Olshins Ansatz "relativ neu" in der Wissenschaft ist (S. 15). Der historisch-kritische Ansatz ist ein Standard in den Geschichtswissenschaften, und die Fragen Olshins gehen genau in die gleiche Richtung wie dieser Ansatz. Gleichzeitig ist es aber durchaus richtig, dass der historisch-kritische Ansatz oft nicht konsequent und nicht ausreichend verfolgt wird, und es ist ein Ansatz von unerschöpflicher Tiefe. Nicht nur die faktischen historischen Ereignisse können mit dieser Methode untersucht werden, sondern auch die oft komplizierten Motivationen historischer Personen und die subtilen impliziten Botschaften, die nur für die Leser der damaligen Zeit verständlich waren. Deshalb hat Olshin völlig Recht, wenn er sagt: "Finally – at the same time, in fact – there was a great deal of interesting evidence floating around that was being ignored, misrepresented, or not thoroughly analyzed in academic works" (S. x). Und Olshin hat völlig Recht, wenn er sagt, dass Pseudoarchäologen überall dort auftauchen werden, wo Historiker es versäumen, zufriedenstellende Erklärungen dieser Berichte über verlorene Technologien und verlorene Zivilisationen in ihre Studien aufzunehmen (S. 36). Genau dies geschah mit Platons Atlantis, als die Wissenschaft im Laufe des 19. Jahrhunderts rigoros aufgehört hatte, die Möglichkeit zu diskutieren, dass Atlantis ein realer Ort sein könnte.

Diese Rezension konzentriert sich auf die Fallstudie von Platons Atlantis als exemplarischem Fall.

Vielversprechende Erkenntnisse über Platons Atlantis

Es ist großartig zu sehen, wie viele Fragen, Einsichten und Beobachtungen Olshin zu Platons Atlantisgeschichte gefunden hat. Olshin stellt fest, dass "nowhere in that preamble [des Timaios] is the reader led to think that the interlocutors are talking about myth, at least myth in the modern sense of a fabrication" (S. 200). Olshin hat gesehen, dass die Anrufung von Mnemosyne Kritias wie einen Historiker sprechen lässt (S. 265). Olshin hat sogar erkannt, dass das hohe Alter von Kritias kein Argument gegen sein Gedächtnis ist, sondern im Gegenteil ein Argument für sein Langzeitgedächtnis (S. 190).

Anders als für die meisten modernen Autoren sind die 9000 Jahre von Atlantis für Olshin kein Grund, ohne weiteres auf eine Erfindung der Atlantisgeschichte zu schließen (S. 200). Es wird erkannt, dass die Geographie von Atlantis nicht im Widerspruch zu traditionellen griechischen geographischen Konzepten steht (S. 203) und dass viele Fakten präsentiert werden, die keineswegs wie Fiktion aussehen (S. 212 f.). Auch Platons geologische Beobachtungen werden als "oddly sober", seltsam nüchtern, bezeichnet (S. 224). Olshin stellt fest, dass schriftliche Aufzeichnungen nicht zu einem fiktionalen Text passen (S. 215), und findet Gills Erklärung dafür unzureichend (S. 244). Auch die detaillierten und genauen Fakten passen nicht in den üblichen Mythosbegriff (S. 209). Olshin beobachtet Aspekte, die für den angeblichen Zweck der Erzählung schlicht überflüssig und damit störend sind (S. 266), wie die Geographie jenseits der Insel Atlantis (S. 205) oder dass auch die Athener einen Untergang erleiden (S. 210), oder die Geschichte über die Überlieferung der Atlantisgeschichte von Solon an Kritias (S. 190). Olshin bemerkt, dass Platon keine klare Erklärung für die kreisförmige Struktur der Stadt Atlantis gibt (S. 244) und dass moderne Interpretationen der Zahlen in Platons Atlantisgeschichte einander widersprechen (S. 250-252). Es ist deutlich zu erkennen, dass viele Aspekte der Atlantisgeschichte im Dialog Nomoi auf höchst ernste Weise wiederholt werden (S. 197).

Olshin wendet sich klar gegen jene modernen Autoren, die Platons Atlantis-Geschichte als Beispiel für einen Täuschungsmythos ("Noble Lie") sehen wollen (S. 201). Auch Paul Veynes Ansichten über die Griechen und ihre Mythen werden abgelehnt (S. 239). Olshin stellt die Idee einer "reinen Fabel" in Frage und stellt die Frage nach einer "peculiar synthesis of history, geological and topographic detail, and mythical structure" (S. 243). All dies ist sehr vielversprechend!

Realität wird abgelehnt

Es ist daher bedauerlich, dass Olshin nur wenige Passagen auf die Frage verwendet, ob die Geschichte von Atlantis tatsächlich auf einer schriftlichen Überlieferung aus Ägypten beruhen und somit auf einen realen Ort hinweisen könnte. Die Hypothese vom minoischen Kreta als Atlantis wird schnell auf der Grundlage zweier allzu einfachen Argumente verworfen: (a) Es handelt sich angeblich um Spekulation (S. 181). (b) Die Einzelheiten der Geschichte von Atlantis passen nicht zu diesem Ort (S. 258, 384 f.). Aber hier sind wir am Kern der Argumentation des Autors selbst angelangt: Warum auf einer buchstabengetreuen Lesart bestehen, wie es die eingefleischten Atlantisgläubigen tun?! Selbst für "normale" antike Texte lehnt die "normale" Wissenschaft eine oberflächlich wörtliche Lesart ab. Nehmen wir z.B. die Geschichten des Herodot:. Wenn Herodot schreibt, dass Ägypten mehr als 11.000 Jahre alt ist, nimmt das in der Wissenschaft niemand wörtlich, aber auch nicht als bloße Erfindung. Stattdessen werden historisch-kritische Argumente verwendet: Herodot hat das Richtige gemeint, aber er hat sich in seinen chronologischen Einschätzungen geirrt. Hier sind wir genau an dem Punkt, an dem wir nach ähnlichen alternativen Erklärungen für Platons Atlantis fragen müssen, aber Olshin verzichtet überraschenderweise darauf, alternative Argumente zu erwägen, die über die moderne vereinfachende Alternative einer wörtlich wahren Bedeutung oder einer reinen Erfindung hinausgehen.

Die Wissenschaftler, die die minoische Hypothese entwickelt haben, werden nicht einmal erwähnt, auch nicht in der Bibliographie. Die Namen von K.T. Frost, Wilhelm Brandenstein, Spyridon Marinatos, Desmond Lee, Angelos G. Galanopoulos, John V. Luce kommen nicht vor, geschweige denn ihre Argumente. Auch die wichtige Hypothese über eine mögliche Verbindung der Seevölker mit Platons Atlantis wird nicht erwähnt, und auch keine Autoren wie Edwin Guest, Wilhelm von Christ, Theodor Gomperz, Emil Svensén oder Rhys Carpenter. Ebenfalls nicht erwähnt werden neuere Autoren wie Massimo Pallottino, Herwig Görgemanns, Eberhard Zangger. Da Olshin Atlantis-skeptische Autoren aus den 1940er und 1950er Jahren zitiert, wird es kein Problem gewesen sein, dass einige dieser Autoren nicht in den letzten Jahren publiziert haben.

Robert Gregg Bury wird mit seiner Arbeit über "Plato and History" (S. 191 und Fn. 24) zitiert, dass Platon es mit seinen allgemeinen Vorstellungen über die Geschichte ernst meinte, womit stillschweigend angedeutetet wird, dass die Details nicht ernst gemeint seien. Zwei zentrale Erkenntnisse dieses Artikels werden jedoch nicht erwähnt: Dass Platon es nach Bury ernst meinte mit seinen hohen Zahlen von tausenden von Jahren des Alters und der Entwicklung der Zivilisation. Und dass Bury völlig offen lässt, ob die Atlantisgeschichte wahr gemeint sein kann oder nicht. Zum Thema Platon und Geschichte wird zumindest ein weiteres wichtiges Werk nicht erwähnt, obwohl es in der Anthologie von Ramage (1978) enthalten ist, aus der Olshin z.B. Fredericks zitiert: Es handelt sich um das bahnbrechende Werk von John V. Luce, "The Literary Perspective – The Sources and Literary Form of Plato's Atlantis Narrative". Hier – und bei anderen Autoren – erfahren wir, dass Platon im allgemeinen recht zuverlässig ist, was die Geschichte betrifft, auch im Detail, und wir werden in eine historisch-kritische Lektüre von Platons Atlantisgeschichte eingeführt. Es ist sehr bedauerlich, dass dieses Werk in diesem Band nicht besprochen wird.

Zumindest zitiert Olshin S. Casey Fredericks aus der Anthologie von Ramage, dass Platon es mit den Flutmythen in einem manchmal euhemeristischen Sinn ernst meinte (S. 259). Olshin demonstriert diese Lesart von Mythen erfolgreich z.B. anhand des Phaethon-Mythos als Teil der Atlantisgeschichte (S. 192). Andererseits schweigt Olshin über Herodot und das Alter Ägyptens und bezieht sich nur in einer Fußnote (S. 192 fn. 27) auf Thomas K. Johansen, der das Verhältnis von Herodots Ägypten und Platons Ägypten nicht in angemessener Weise, sondern mit dem Eifer eines sehr überzeugten Atlantisskeptikers interpretiert. Olshin erwähnt nur die Spekulationen des Herodot über Geologie (S. 241), nicht aber die Vorstellung des Herodot vom Alter Ägyptens von mehr als 11.000 Jahren. Und obwohl Olshin erkennt, dass Platon im Dialog Nomoi (S. 197) über viele Aspekte der Atlantisgeschichte ernsthaft spricht, hat er nicht gesehen, dass dies auch für das Alter Ägyptens von mehr als 10.000 Jahren gilt (Nomoi II 656e), zu dem das Alter von Atlantis im Verhältnis steht.

Anschluss an die vorherrschende Meinung

Es gibt einen roten Faden, der sich durch das gesamte Kapitel über Platons Atlantis zieht: Es ist die Entscheidung des Autors, sich der vorherrschenden Meinung in der Wissenschaft anzuschließen, dokumentiert durch Sätze wie diesen: "Only a few scholars – such as Diskin Clay, Christopher Gill, and Harold Tarrant – have tackled Plato’s account directly, and this chapter will cite those studies extensively." (S. 182, vgl. auch S. 201, 386) Besonders die Interpretation von Christopher Gill hat ihn beeinflusst, obwohl sie sich über die Jahre als ein "moving target" erwiesen hat.

Diese Entscheidung des Autors gerät immer wieder in heftigen Konflikt mit seinem eigenen Ansatz, wie im gesamten Kapitel zu sehen ist. Während sein eigener Ansatz offen ist für die Frage nach möglichen, von Platon gemeinten Realitäten aller Art, sieht die vorherrschende Meinung nur ein "Pastiche" von Materialien und "allgemeinen Wahrheiten", also letztlich eine Erfindung Platons, und keinen wirklichen Wissenstransfer im Laufe der Zeit. Wenn Platon sagt, dass etwas wahr ist, dann wird dies als ein Zeichen von Fiktion interpretiert. Wenn Platon Fakten und Details und Zahlen präsentiert, dann wird dies als ein Mittel interpretiert, um Fiktion zu verbergen und einen "Realitätseffekt" zu erzeugen. Wenn Platon auf Quellen verweist, wird dies auf die gleiche Weise interpretiert. (S. 211, 242 f., 248-250, 259, 265-267) – Durch diese Methode erleidet Olshins ursprünglicher Ansatz, dieser faszinierende und vernünftige Ansatz, den Tod durch Ersticken.

Das Ergebnis sind zahlreiche Selbstwidersprüche und sachlich falsche Aussagen. Einerseits wird die Atlantisgeschichte als vernünftig und realitätsnah beschrieben (siehe oben), andererseits aber auch als "phantasievoll" (S. 4) bezeichnet, noch "phantasievoller" sogar als Geschichten über Flugmaschinen! Außerdem wird der Atlantisgeschichte implizit ein "phantastischer" Tonfall zugeschrieben (indem gesagt wird, dass es einen solchen phantastischen Tonfall in den Nomoi nicht gibt; S. 196). – Auf der einen Seite wird gesagt, daß "Plato himself does not comment on the matter of whether or not the Atlantis story is fabrication" (S. 211, 258), aber auf der anderen Seite wird gut bemerkt, daß Platon die Geschichte als eine wahre Geschichte bezeichnet (siehe oben), aber dies wird als ein Zeichen von Fiktion interpretiert, der vorherrschenden Meinung in der akademischen Welt folgend. – Auf der einen Seite wird berichtet, dass ein Wissenschaftler "has ... pointed out that the claim in Timaeus of veracity for what appears as a mythical story is not that unusual in Plato" (S. 259), aber auf der anderen Seite wird derselbe Wissenschaftler zitiert mit "Plato introduces no other illustrative narrative into his dialogues with such affirmations of its factual truth" (S. 265). – Auf der einen Seite wird gesagt, dass "historical events, particularly in Plato’s times, were not easily verifiable in terms of written records or systematic archaeological investigations" (S. 269), aber auf der anderen Seite ist dies genau das Gegenteil von dem, was Platon behauptet und was Krantor (angeblich) getan haben soll, was keineswegs unmöglich ist, da Solon und Platon und viele andere Griechen tatsächlich in Ägypten waren und auch heute noch moderne Wissenschaftler historisches Wissen aus den zu Platons Zeit verfügbaren ägyptischen Texten schöpfen. – Nicht zuletzt heißt es, dass Platons "text simply does not provide specific enough information", um Atlantis in der realen Welt zu suchen (S. 258). Dies steht jedoch im Widerspruch zu der Erkenntnis, dass Platon in Bezug auf Chronologie und Geographie sehr genau ist (siehe oben). Natürlich konnte Atlantis nicht an der beschriebenen Stelle im Atlantik vor der Meerenge von Gibraltar gefunden werden, wie durch die Entwicklung der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert (nicht früher) deutlich wurde, aber der Grund, warum Atlantis noch nicht gefunden wurde, ist sicher nicht ein Mangel an Genauigkeit.

Der vorherrschenden Meinung folgend, hat Olshin eine Lesart von Platons Atlantisdialogen akzeptiert, die überall Zweideutigkeit, Ambiguität, sieht. Ein exemplarischer Fall ist das Vermauscheln einer klaren Wendung der Handlung zu Beginn des Timaios: Zunächst bittet Sokrates die Dialogteilnehmer um eine klar erfundene, artifizielle Geschichte als Illustration für den Idealstaat, die auf ihren Erfahrungen und ihrem Wissen beruht. Doch dann bietet Kritias stattdessen eine echte Geschichte an, und das ist die Wende in der Handlung. Aber viele Gelehrte verheimlichen diese Wendung und lesen den Timaios, als ob Sokrates' Worte über den Plan, eine Geschichte zu erfinden, voll und ganz auf Kritias' Geschichte zutreffen würden, was sie natürlich nicht können. Auch Olshin hat diese Wendung in der Handlung nicht erkannt (S. 183, 264), und kommt zu einer Zweideutigkeit, die es nicht gibt. Olshin leitet die Zweideutigkeit auch aus der Idee ab, dass alle Fakten und Details in Platons Atlantisgeschichte nur eingefügt wurden, um einen Realitätseffekt zu erzeugen (S. 213) – aber was, wenn nicht? Zweideutigkeit ergibt sich auch aus verschiedenen Aussagen über das geschriebene Wort in verschiedenen Dialogen Platons (S. 215). Aber viele Wissenschaftler sind sich heute einig, dass diese Aussagen einander nicht widersprechen. Aber um Atlantis zur Fiktion zu erklären ist diese angebliche Zweideutigkeit Platons in Bezug auf das geschriebene Wort für bestimmte Gelehrte immer noch nützlich.

Dem Gedanken der vorherrschenden Meinung folgend, daß Platons Atlantis-Erzählung eine Art Roman ist (S. 256 f.), d.h. ein Text, von dem sowohl Autor als auch Leser wissen, daß er fiktional ist, vergleicht Olshin die Atlantisgeschichte immer wieder mit den Werken von anderen fiktionalen Autoren – aber diese lebten alle erst lange nach Platon, und wie die Atlantisskeptiker, auf die er sich verläßt, kann er die Kluft von mehreren Jahrhunderten zwischen Platon und den ersten romanartigen Texten nicht überbrücken. So vergleicht Olshin z.B. Platon mit Plutarch aus dem frühen 2. Jh. n.Chr. (S. 211, 258), Lukian aus dem 2. Jh. n.Chr. (S. 211, 258), Antonius Diogenes aus dem 2. (?) Jh. n.Chr. (S. 210), Proclus aus dem 5. Jh. n.Chr. (S. 214), Photios aus dem 9. Jh. n.Chr. (S. 211), und schließlich verweist er auf die Mystiker der Renaissance (S. 322). All diese Vergleiche beweisen nichts.

Der Idee der vorherrschenden Meinung folgend, wird der Dialogteilnehmer Kritias als Kritias der Tyrann interpetiert (S. 190), und daher wird die Überlieferungskette innerhalb der Familie Platons als widersprüchlich angesehen (S. 190). Alternative Lösungen werden nicht diskutiert. – König Atlas von Atlantis wird mit dem Titanen Atlas aus der griechischen Mythologie identifiziert (S. 237). Dies ist höchstwahrscheinlich falsch.

Völlig gegen seinen eigenen Ansatz verliert Olshin kein Wort darüber, ob in Platons Atlantisgeschichte womöglich verlorenes Wissen enthalten ist. Wissenstransfer wird nur noch im übertragenen, mythischen Sinn vermutet. Es gibt keine Untersuchung, ob Platon richtig damit lag, dass die Griechen einst eine Schrift hatten und sie dann wieder verloren. Es gibt keine Untersuchung, ob Platons Angaben zu alten Streitwagentypen zutreffend sind. Es gibt keine Untersuchung, ob Platon vielleicht von einer verlorengegangenen Kunst des Wasserbaus berichtet. Es gibt keine Untersuchung, ob das beschriebene religiöse Ritual auf eine vergangene Zeit hindeutet. Das alles gilt von vornherein als Erfindung Platons zur Erzielung von "Realitätseffekten" und wird deshalb gar nicht erst diskutiert.

Verzerrte Rezeptionsgeschichte

In Anlehnung an die Autoren der in der Wissenschaft vorherrschenden Meinung wird die Rezeptionsgeschichte von Platons Atlantisdialogen völlig verzerrt dargestellt, zumal sich Olshin stark auf den völlig fehlerhaften Artikel "Crantor and Posidonius on Atlantis" von Alan Cameron 1983 stützt. Inzwischen sind neben mir mindestens zwei weitere Autoren, Nesselrath und Tarrant, der Meinung, dass dieser Artikel zentral auf einer falschen Übersetzung beruht. Olshin zitiert auch jenen berüchtigten, verantwortungslosen Satz von Cameron fast zustimmend, der lautet: "it is only in modern times that people have taken the Atlantis story seriously; no one did so in antiquity" (S. 257).

Krantors Aussage über Platons Atlantis wird nach Tarrant interpretiert, der meint, Krantor habe nicht von Geschichte gesprochen, weil historia in Proclus' Werk eine andere Bedeutung habe als zur Zeit Krantors. Tarrant hat jedoch übersehen, dass Krantors Aussage immer noch von Geschichte handelt, wenn man den Kontext betrachtet. Abgesehen von der Tatsache, dass Krantor der erste Autor eines bekannten Kommentars zu Platons Timaios war und kein antiker Autor von einem Konflikt zwischen diesem Kommentar und dem Glauben an die Existenz von Atlantis berichtet. – Das Zeugnis des Theoprast, Schüler und direkter Nachfolger des Aristoteles, zugunsten der Existenz von Atlantis wird von Olshin ausgelassen. Ebenfalls weggelassen werden z.B. Philon von Alexandria, Plutarch, Tertullian. – Die Ansicht von Strabon und Poseidonios wird völlig verzerrt dargestellt (S. 261-263). Sowohl Strabon als auch Poseidonios bringen deutlich die Meinung zum Ausdruck, dass es "besser" ist, die Existenz von Atlantis anzunehmen, als daran zu zweifeln. Es ist auch falsch, dass Diodor über Platons Atlantis geschrieben hat (S. 182).

Proklos interpretierte die Atlantisgeschichte nicht nur durch Symbolik (S. 263), er interpretierte sie gleichzeitig als eine echte historische Überlieferung, wie andere Neuplatoniker auch. – Auch Oviedo sprach nicht über Atlantis, obwohl sich dieser Fehler in wissenschaftlichen Werken immer wieder wiederholt (S. 383). Oviedo sprach von Atlas und den Hesperiden, nicht von Atlantis.

Und es ist falsch, dass die modernen Spekulationen über eine mögliche Existenz von Atlantis mit Ignatius Donnelly begannen (S. 177). Donnelly gelang es zwar tatsächlich, Atlantis als pseudowissenschaftliches Thema populär zu machen, aber die zeitliche Reihenfolge war genau umgekehrt: Donnelly lebte in einer Zeit, in der die Wissenschaft damit aufhörte, über Atlantis als einem möglicherweise realen Ort nachzudenken, und damit begann, die heute vorherrschende einseitige Meinung anzunehmen, dass Platons Atlantis eine Erfindung sei.

Es ist erstaunlich, dass Olshin nicht über das Zeugnis des Aristoteles über Platons Atlantis spricht. Offensichtlich sieht er kein solches Zeugnis, da er keinen Zeitgenossen Platons sieht, der ein Zeugnis über Atlantis ablegt (S. 257). Aber gleichzeitig behaupten alle von Olshin zitierten wissenschaftlichen Autoren, dass es ein solches Zeugnis von Aristoteles gäbe! Alan Cameron, Harold Tarrant, Christopher Gill, Diskin Clay: Sie alle schreiben, dass die Erfindungsaussage über Platons Atlantis in Strabon II 102 (2.3.6) ein direktes Zitat von Aristoteles ist. Doch Olshin verzichtet darauf, diese Behauptung zu wiederholen. Warum das? Dafür gibt es einen klaren und einfachen Grund: Im Jahr 2010, Englisch 2012, war ein Buch mit dem Titel "Aristoteles und Atlantis" veröffentlicht worden, das diese Behauptung stark infragestellte. Deshalb verzichtete Olshin klugerweise darauf, die Behauptung zu wiederholen. Aber er hat vergessen, den Grund dafür zu erwähnen, dass und warum er in einer so wohlbekannten Frage von seinen Hauptquellen abweicht, und er hat dieses Buch nicht in die Bibliographie aufgenommen.

Platonische Mythen

Erst sehr spät, auf Seite 350, legt der Autor eine Definition von mythos im Sinne Platons vor. Das ist viel zu spät! Eine solche Definition war von Anfang an notwendig. Zumindest ist die von Mott T. Greene gegebene Definition ziemlich richtig, was nicht selbstverständlich ist. Und ja, Platon hat eine klare Unterscheidung zwischen mythischer Metapher und empirischem Wissen (S. 193). Und ja, der Begriff des eikos mythos ist von Bedeutung! (S. 268) Aber die Interpretation der Platonischen Mythen als eine Darstellung der Wirklichkeit "as in a glass darkly" ist zu mythisch, um in Platons Konzept von mythos zu passen (S. 268).

Es stimmt zwar, dass Platon absolutes Wissen über die natürliche Welt und damit auch über die Geschichte ablehnte (S. 270), aber das bedeutet nicht, dass er nur Fabel und Erfindung sah. Es ist völlig falsch, das Höhlengleichnis als mythos im Sinne Platons zu interpretieren (S. 269). Es wäre auch hilfreich gewesen, wenn der Autor das Wort "tale" nicht benutzt hätte, um über die Atlantisgeschichte zu sprechen, denn sie ist kein "tale" (S. 177 ff.). Sie wird als eine angeblich verlässliche historische Überlieferung dargestellt – ob wahr oder nicht wahr: Sie ist weder eine bloße Märe, noch ein Mythos, noch ein mythos im Sinne Platons. Olshins Vorschlag eines "packaged myth" ist nicht so falsch (S. 258, 265), aber die Aspekte werden anders gewichtet, als Olshin annimmt. Es ist moderner, als er denkt. Die Hauptbedeutung liegt nicht in den Details (S. 261).

Bezüglich der von Christopher Gill vorgelegten Interpretation des Wortes paideia im Platonischen Mythos des Politikos, "which might seem authentically historical (or pre-historical), but which is gradually revealed as a functional fable" (S. 213), müssen wir widersprechen: paideia (Politikos 268d) steht in direktem Zusammenhang mit der Tatsache, dass ein unnötig langer mythos erzählt wird, von dem nur ein kleiner Teil für das vorliegende Problem benötigt wird. Mehr nicht. – Was den Platonischen Mythos um den Ring des Gyges betrifft, so ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass Platon ihn durch das Verb mythologousin (Politeia II 359d) eindeutig als mythos identifiziert, während die Atlantisüberlieferung im Gegensatz zu einem mythos eindeutig als logos identifiziert wird.

Kleinere Fragen

Der interkulturelle Vergleich der Geographie Platons mit koreanischen Karten ist legitim und interessant (S. 207 f.). Dennoch sind die Ähnlichkeiten zu schwach und andere Erklärungen zu stark, um dies zu belegen. – Das griechische Wort Atlantis ist nicht wirklich eine "possessive Form" des Namens Atlas (S. 236), etwa im Sinne eines Genetivs, sondern ein Patronymikon. – Auf S. 350 ist Mott der Vorname, nicht der Nachname von Mott T. Greene.

In der Bibliographie fehlen (neben den bislang als fehlend genannten Werken) zumindest die folgenden Werke: Von Heinz-Günther Nesselrath der große Kritias-Kommentar von 2006, eines der wichtigsten wissenschaftlichen Werke zum Thema. Von dem Oxford-Wissenschaftler Stephen P. Kershaw "A Brief History of Atlantis - Plato's Ideal State" aus dem Jahr 2017; obwohl es ein sehr fehlerhaftes Buch ist, repräsentiert es das zeitgenössische wissenschaftliche Arbeiten zum Thema. Und nicht zuletzt von dem großen Ägyptologen und Kulturanthropologen Jan Assmann die Werke über das kulturelle, kommunikative und / oder kollektive Gedächtnis.

Schluss

Das Thema dieses Buches ist faszinierend. Der Ansatz ist großartig. Viele erfrischende Ideen sind entstanden. Wir müssen den Autor ermutigen, seine Forschungen fortzusetzen und seinem Ansatz treu zu bleiben. Das Buch beeindruckt durch die Variationsbreite der Fallstudien, durch den Versuch, interkulturelle Vergleiche und vielleicht sogar noch unbekannte interkulturelle Zusammenhänge durch die Jahrhunderte anzustellen. Unter der Perspektive dieses Ansatzes wäre es hilfreich, die Spannung zwischen widersprüchlichen wissenschaftlichen Meinungen aufrechtzuerhalten. Die Identifizierung eines Problems könnte hilfreicher und ein größerer Beitrag zum wissenschaftlichen Fortschritt sein als der Versuch, das Problem sogleich zu lösen.

Es ist schade, dass dieses Buch daran scheiterte, seinen eigenen Anspruch einzulösen, als es um Platons Atlantis ging. Das Scheitern an Platons Atlantis ist hier aber nur ein halber Misserfolg, denn Olshin hat damit unfreiwillig die Absurdität der vorherrschenden Meinung enthüllt, und durch seinen Ansatz hat er das rettende Heilmittel immer noch in seinen eigenen Händen. Platons Atlantis ist ein Minenfeld und ein Thema von unergründlicher Tiefe und Komplexität. Wir haben einmal mehr den traurigen Zustand der vorherrschenden Meinung über Atlantis gesehen, sowie ihre Auswirkungen auf Werke, die sich auf sie verlassen: Veraltetes Wissen wird immer wieder wiederholt, widerlegte wissenschaftliche Artikel werden nach wie vor zitiert, bestimmte Werke haben einen stumme aber gleichwohl offensichtlichen Einfluss und werden aus welchen Gründen auch immer nicht zitiert, Widersprüche werden nicht aufgelöst, bestimmte Themen werden vermieden, falsche Spuren gelegt usw. usw. – Es ist ein einziges Durcheinander, das immer unerträglicher wird. Selten hat ein Buch das Scheitern der vorhersschenden Meinung zu Platons Atlantis deutlicher zum Ausdruck gebracht als dieses hier. Es scheint, dass wir uns einem Paradigmenwechsel bezüglich Platons Atlantis nähern.



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