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Antwort auf: In Defense of Atlantis Scepticism – Countering Thorwald C. Franke's Misleading Allegations, von Heinz-Günther Nesselrath, Draft PDF April 2023.
Antwort von: Thorwald C. Franke, Frankfurt am Main, 14. April 2023.


Professor Heinz-Günther Nesselrath, ein klassischer Philologe und Experte für den griechischen Satiriker Lukian (Universität Göttingen), hat erneut einen Text gegen meine Ideen zu Platons Atlantis geschrieben. Er richtet sich gegen meinen Internet-Artikel über "Die dunkle Seite der Atlantisskepsis" von 2021 (Externer Link), der auf meinem Buch über die Rezeptionsgeschichte von Platons Atlantisgeschichte von 2016/2021 (Externer Link) basiert, und trägt den Titel "In Defense of Atlantis Scepticism" (Externer Link) (nur Englisch).

Allgemeine "Missverständnisse"

Neben den üblichen rhetorischen Tricks arbeitet Nesselrath dieses Mal mit mehreren "Missverständnissen". Da Nesselrath ein intellektuell fähiger Mensch ist, erscheint es unwahrscheinlich, dass er wirklich ein Opfer dieser Missverständnisse ist. Sollte dies aber tatsächlich der Fall sein, was könnte die Ursache für die Missverständnisse sein? Uns bliebe dann nur die Vermutung eines glühenden Anti-Atlantis-Eifers.

Das erste und wichtigste "Missverständnis" ist die Behauptung, mein Artikel würde pauschal und undifferenziert allen Atlantisskeptikern alle möglichen bösen Motivationen unterstellen, und diese Übel wären angeblich "inherent in such a scepticism" (S. 1), daher der Titel von Nesselraths Draft PDF: "In Defense of Atlantis Scepticism". – Aber in Wahrheit tut mein Artikel nichts dergleichen und greift die Atlantisskepsis als solche nicht an. Mein Artikel wagt es lediglich, auf "einen vergessenen Aspekt der Atlantisfrage", wie es im Untertitel heißt, und auf eine "dunkle Seite der Atlantisskepsis", wie es im Titel heißt, aufmerksam zu machen, denn ... derzeit scheint jeder nur die gute Seite der Atlantisskepsis zu kennen, während alle denkbaren Übel nur den Atlantisbefürwortern zugeschrieben werden. Fehlende Aspekte aufzuzeigen und Perspektiven auf die andere Seite der Medaille zu eröffnen, ist deshalb fern von jeder Form von Pauschalurteil. Deshalb habe ich meinen Artikel mit diesen Worten abgeschlossen: "Was können wir aus all dem lernen? Sicher nicht, dass Atlantisskepsis falsch ist oder dass sie verurteilt werden sollte, nur weil sie für dies und das missbraucht wurde und wird." – Aber Nesselrath interpretiert diese Worte als "backpedal" (zurückrudern) (S. 9) und rettet damit sein "Missverständnis".

Das andere große "Missverständnis", auf dem Nesselrath seinen neuen Artikel aufgebaut hat, ist die stillschweigende Annahme, dass mein Artikel eine Art schlecht geschriebener wissenschaftlicher Artikel wäre. Denn immer wieder beschwert sich Nesselrath darüber, dass ich keine Namen nenne, keine Quellen anführe, keine Beweise für meine Behauptungen liefere. Aber es ist kein wissenschaftlicher Artikel. Es ist ein Internet-Artikel, der als Denkanstoß gedacht ist. Das weiß Nesselrath natürlich, und Nesselrath weiß auch, dass ich alle Namen, alle Quellen und alle Belege in meinem Buch über die Rezeptionsgeschichte genannt habe, das Nesselrath selbst immer wieder zitiert (wenn es ihm gefällt), und auf das es am Ende des kritisierten Artikels (!) einen bibliographischen Hinweis für alle gibt, die mehr wissen wollen.

Allgemeine Fehldarstellungen

Recht vielsagend ist auch die Frage Nesselraths am Ende, warum meine Vorstellung von Atlantis anders aussieht als Platons Atlantis? (S. 10) Natürlich weiß Nesselrath, warum: Wegen der historischen Kritik. Weil Ägypten nicht 11.340+ Jahre alt ist, wie die Griechen glaubten, sondern erst um 3.000 v.Chr. entstanden ist. usw. usw. usw. Nesselrath weiß das alles. Aber trotzdem stellt er diese Frage. Damit vermeidet Nesselrath auffällig jeden Gedanken an eine historisch-kritische Lesart von Platons Atlantisgeschichte. Denn auf der Grundlage seines Wissens wäre die folgende Frage legitim: Ob meine historisch-kritischen Überlegungen berechtigt sind. Aber nicht, warum mein Atlantis anders aussieht als Platons Atlantis. Diese "unschuldige" Frage zeichnet ein völlig falsches Bild von mir und meinen Ideen. Sie erweckt den Eindruck der üblichen dummen Rosinenpickerei von weniger gebildeten Atlantissuchern. Vielleicht war das die Absicht?

Natürlich bin ich für Nesselrath ein "fervent believer" an die Existenz von Atlantis (S. 1). Das bin ich nicht. Ich wage es, Argumente vorzubringen. Was Nesselrath nicht gefällt. Und die er nicht widerlegen kann. Da kommt es gerade recht, mich als "fervent believer" darzustellen. Doch interessanter ist Nesselraths Selbstbeschreibung in seinem neuen Artikel: Er sieht sich als "an Atlantis sceptic, if ever there was one" (S. 9). Dieser Zusatz "if ever there was one" klingt in der Tat wie ein "fervent belief". Nur handelt es sich diesmal nicht um die womöglich unfaire Beschreibung eines Gegners, sondern um seine Selbstbeschreibung! Hoppla!

Immer wieder kehrt Nesselraths Behauptung, ich würde angeblich den Kern der Philosophie Platons "in an unconditional belief in the historicity of Atlantis" sehen (S. 2). Später unterstellt Nesselrath mir einen "limitless belief in Plato's authority" (S. 9), und eine Seite später stellt er die Behauptung auf, ich hätte in meinem Buch über Platonische Mythen über Platons Geschichten verschiedener Art geschrieben, dass "all of these stories being based on facts and – this is, of course, Franke's main concern – none of them invented!" (S. 10 Fußnote 24). – Nur Unsinn. Ich unterscheide sorgfältig zwischen mythos, logos und eikon, ich unterscheide zwischen Geschichten mit unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit, wahr oder falsch zu sein, ich unterscheide zwischen vollständig erfundenen Platonischen Mythen, Allegorien, Analogien, sogar Täuschungen. Ich diskutiere verschiedene Arten der Anwendung von Erfindung in Platons Werken. Und ich erörtere, wie Platon diese Geschichten unterschiedlicher Art zu größeren Geschichten sehr gemischter Art verwoben hat. Aber die einzige Schlussfolgerung, die Nesselrath aus meinen Überlegungen zieht, ist, dass angeblich "all of these stories being based on facts and – this is, of course, Franke's main concern – none of them invented!"

Und Nesselrath, wie fast alle Atlantisskeptiker, verliert kein Wort darüber, was es bedeuten würde, wenn Platon absichtlich wichtige Teile seiner Philosophie mit beabsichtigten Lügen und unwahren Erfindungen verbunden hätte. Es ist möglich. Natürlich. Errare humanum est. Und auch unmoralische Motivationen sind nicht ausgeschlossen. Aber ist das wahrscheinlich?

Bringen betrügerische Philosophen Philosophien hervor, die über Generationen hinweg zu faszinieren vermögen? Hatte Plato das Bedürfnis, seine Philosophie durch Erfindungen zu rechtfertigen? Hat er nicht an seine eigenen Theorien geglaubt, z.B. an die Theorie des idealen Staates und der sich wiederholenden zyklischen Geschichte? Hat er also eine Annäherung an den Idealstaat einige Zyklen vor seiner Zeit aus dem Nichts erfunden, anstatt in alten Quellen danach zu suchen? Hat Platon nicht einmal den Versuch unternommen, nach alten Quellen zu suchen? Nein? Wirklich nicht? Ist die Idee, dass ägyptische Texte ein Fenster in alte Zeiten öffnen konnten, von dem die Griechen kein Wissen bewahrt hatten, die Ägypter aber möglicherweise schon – ist auch diese Idee eine bloße Erfindung und nicht Platons ernsthafte Überzeugung? Und warum den Zusammenprall eines Imperiums mit einem kleinen Stadtstaat erfinden, wenn dies in den Perserkriegen in der Realität geschehen ist? Ist eine reale Geschichte nicht besser als eine erfundene? Das lässt Platon Sokrates im Timaios sagen. Ist das nicht Platons eigene Überzeugung? Ist das alles eine Orgie der Ironie und eine einzige große Satire? Platon ein Satiriker, wie z.B. Lukian? (Welch ein Zufall, dass Nesselrath ein Experte nicht für Platon, sondern für Lukian ist.) Alle Dialoge Platons sind ein kompliziertes Geflecht von Lügen und Ironien und Täuschungen und Satiren und Erfindungen? Schneidet Occams Rasiermesser nicht alle diese überkomplizierten Erklärungen ab?

Und ist das die Lehre der historischen Kritik, dass wir überall dort, wo wir auf eine alte Geschichte stoßen, die uns seltsam vorkommt und nach unserem modernen Wissen nicht real sein kann, eine absichtliche Erfindung sehen sollten? Wirklich? Und die in Platons Nomoi erwähnten ägyptischen Gemälde, die angeblich 10.000 Jahre alt sind, sind auch Erfindungen und Ironie, keine irrende Überzeugung? Und was ist mit Herodots irrigem Alter Ägyptens von 11.340 Jahren? Ah, oh, das dürfen wir ernst nehmen? Weil Herodot ein Historiker war, während Platon "nur" ein Philosoph war? Weil jeder weiß, dass Historiker niemals lügen, während Philosophen die Wahrheit immer verachten ...? Ah oh?

Ich bin sicher nicht der einzige, der eine solche Kindergartenversion historisch-kritischer Deutung ablehnt. Und ich bin gewiss nicht der einzige, der eine solche Vorstellung eines betrügerischen Platon ablehnt. Es ist vielmehr Nesselrath, der mit den Folgen seines Lukian-artigen Platon ganz allein dasteht. Vielleicht findet Nesselrath mit dieser Idee einige Anhänger unter den antirationalen Postmodernen? Mein Kommentar lautet: Lebwohl!

Einzelne Themen Punkt für Punkt

Nesselrath meint, dass ich am Anfang meines Artikels von Isokrates spreche, aber Isokrates habe nicht über Atlantis geschrieben, sondern über Platons Idealstaat, beklagt Nesselrath (S. 1). Nun, Platons Idealstaat ist integraler Bestandteil der Atlantisgeschichte, und viele haben die Idee geäußert, dass die Atlantisgeschichte (angeblich aus Ägypten) eine Art "Antwort" auf Isokrates' Vorwürfe gegen Platon ist. Eine ernsthafte Antwort, natürlich, kein Scherz. Es war nur logisch, die Atlantisgeschichte in die Kritik an Platons politischem Denken einzubeziehen, da sie ein integraler Bestandteil davon ist, und das sehen wir ausdrücklich in der Zeit von Krantor.

Was Krantor betrifft, so unterstellt mir Nesselrath die vereinfachende Meinung, Krantor habe "evidence" (Beweise, Belege) für Atlantis in Ägypten gefunden (S. 1). In meinem Artikel steht aber, dass Krantor "angeblich Belege fand". Daher wurde hier kein vereinfachender, dummer Atlantisglaube geäußert. Aber Nesselrath fährt fort mit "Such details do not bother Franke in the least", obwohl Nesselrath genau weiß, dass ich "angeblich" geschrieben habe und dass ich mir in meinem Buch genug Mühe mit den Details gemacht habe. Wie sehr gibt sich eigentlich Nesselrath Mühe, meine Worte korrekt wiederzugeben? Und möchte Nesselrath etwa verneinen, dass Krantor glaubte, Belege gefunden zu haben?

Was Kelsos betrifft, so kritisiert Nesselrath mein argumentum e silentio (S. 2), das im wesentlichen wie folgt lautet: Kelsos schweigt zwar zu Atlantis, aber seine Argumente kommen offensichtlich aus Platons Atlantisgeschichte, und das ist der Punkt. Kelsos hätte nur dann von Atlantis als solchem gesprochen, wenn er an die Argumente aus der Atlantisgeschichte geglaubt hätte, nicht aber an Atlantis selbst. – Nesselrath unternimmt den Versuch, genau diese Behauptung zu widerlegen: dass Kelsos seine Argumente aus der Atlantisgeschichte nimmt: "Franke's claim that Celsus referred to the Egyptians as sources for Plato (and would thus be referring to the introductory part of the Timaeus and to the Critias) is not correct" (S. 2 Fußnote 4). Aber Nesselrath liegt einfach falsch, schlicht und ergreifend falsch. Denn Origenes schreibt über Kelsos: "Wenn er sich hierfür auf die Dialoge Platos beruft" und "Kelsos mag aber als Lehrer der Sage von den Weltbränden und Wasserüberflutungen seine hochweisen Ägypter haben." (Origenes Contra Celsum I 19 f.) Natürlich stützt sich Kelsos stark auf Platons Atlantisgeschichte, einschließlich der Ägypter als deren Quelle. Mein Buch, das Nesselrath hier zitiert, weist auf I 19 f. als die erste relevante Stelle hin. Hat Nesselrath dies "übersehen"?

Zu Aristoteles' angeblicher Autorschaft eines Atlantisskeptischen Satzes in Strabo 2.3.6 behauptet Nesselrath: "But the jury is still out on the question" (S. 3). – Welche "jury"? Ich habe eine klare und hinreichende Argumentation vorgebracht, und Nesselrath hat einmal zugegeben, dass mein Argument ihn ernsthaft an der Urheberschaft des Aristoteles zweifeln lässt, und Nesselrath hat auch keine alternativen Argumente für die Autorschaft des Aristoteles, außer einer völlig unglaubwürdigen Tradition des Irrtums aus dem 19. Jahrhundert. Warum also zögern, das Unvermeidliche zuzugeben? Es gibt keine "Jury" in der Wissenschaft. Die Wissenschaft ist nicht so organisiert wie die katholische Kirche, in der Konzilien über die Wahrheit einer Aussage entscheiden. Hic Rhodus hic salta.

Übrigens führt Nesselrath diesmal selbst ein argumentum e silentio an (S. 3), während er mir dies nur wenige Passagen zuvor zum Vorwurf gemacht hatte. Es scheint, dass Nesselrath generell nicht erkannt hat, dass das Urteil eines argumentum e silentio nicht immer ein Urteil des Zweifels und der Ablehnung ist, sondern vom Kontext abhängt. Die Bedeutung des Schweigens unterscheidet sich von Situation zu Situation. Das Schweigen spricht im Allgemeinen dafür, etwas zu akzeptieren, nicht etwas abzulehnen, denn es ist die Ablehnung, die einen zum Sprechen bringt, während die Akzeptanz nichts Besonderes ist. Wenn aber die Akzeptanz etwas Besonderes ist, dann ist es genau umgekehrt. Muss ich das einem klassischen Philologen wirklich erklären?

Nesselrath unterstellt mir eine "brazen equation of the church, the inquisition and Atlantis scepticism" (S. 3). Das stimmt nicht. Nesselrath lässt vielmehr das Argument nicht gelten, dass die Inquisition die Lehre der Kirche von einem Weltalter von nur 6.000 Jahren durchsetzte, und dass dies natürlich ein Angriff auf den Atlantisglauben der damaligen Zeit war, da Platons Atlantis angeblich 9.000 Jahre alt war. Das ist nur logisch! Deshalb fand die Idee von 9.000 Mondjahren, also Monaten, in dieser Zeit mehr Anhänger. Aber Nesselrath akzeptiert diese logische Überlegung nicht, sondern will Namen haben.

Amüsant ist: Nesselrath selbst kommt im folgenden auf zwei solcher Namen zu sprechen! Nesselrath lobt Juan de Solórzano Pereira dafür, dass er genau dieses Argument der 6.000 gegen die 9.000 Jahre vorgebracht hat: "... but in Solórzano's and his contemporaries' view this must have been a perfectly rational argument." (S. 4) In der Tat. Übrigens unterstellt mir Nesselrath, ich würde Solórzanos Argument lächerlich machen ("ridicule"), und Nesselrath belehrt mich, dass historische Argumente gegen Atlantis zu ihrer Zeit rational gewesen sein könnten (S. 4). Als ob Nesselrath nicht wüsste, dass ich das sehr wohl weiß. – Und dann ist da noch La Peyrère, der "dared to claim in 1655 that human beings lived even before Adam and Eve. One of his arguments was the age of Plato's Atlantis of 9,000 years. His work was immediately condemned by the church and the author put to prison", so zitiert Nesselrath mein Buch (S. 5). Natürlich wurde La Peyrère nicht verurteilt, weil er an Atlantis als solches glaubte, sondern weil der Glaube an Atlantis einen Unglauben an die Lehre der Kirche über das Alter der Welt von nur 6.000 Jahren implizierte. Doch Nesselrath tut hartnäckig so, als würde er diesen Zusammenhang nicht sehen.

Auch die Bedeutung der Atlantisfrage für die spanischen Kolonialansprüche in Amerika macht Nesselrath lächerlich: "were there any surviving Atlantians who might have disputed Spain's claim to its American territories?", fragt Nesselrath (S. 4). Die Antwort lautet: Ja, natürlich! Wenn die amerikanischen Indianer Überlebende von Atlantis gewesen wären, wären sie nicht von den Spaniern "entdeckt" worden, denn Atlantis war kein unbekanntes Land, und deshalb wären die Indianer Besitzer ihres eigenen Landes. Nesselrath ignoriert systematisch das Hauptargument, dass in diesen Zeiten das Recht des Erstentdeckers die Grundlage für koloniale Landansprüche war.

Nesselrath beklagt, ich würde mich auf Solórzanos "unehrliche" ("dishonest") Motivation konzentrieren, wobei "dishonest" in Anführungszeichen steht (S. 5). Erstens: Ich habe nicht von einer "unehrlichen" Motivation gesprochen. Es handelt sich nicht um ein Zitat meiner Worte, auch wenn es wie eines aussieht. Die Anführungszeichen weisen darauf hin, dass Nesselrath die Unehrlichkeit von Solórzanos Motivation in Frage stellt. Aber ist sie nicht wirklich unehrlich? Will Nesselrath wirklich den Schöpfer kolonialer Ansprüche verteidigen? Zweitens ist es absolut berechtigt, die Frage zu stellen, warum ein Jurist, der sich mit der Legitimität der kolonialen Ansprüche Spaniens in Amerika beschäftigt, ausführlich gegen die Existenz von Atlantis schreibt! Laut Nesselrath ist seine Meinung nur vernünftig, und deshalb sollten wir uns nicht auf einen tieferen Grund für diese Meinung konzentrieren. Sollten wir Nesselraths doch eher naivem Ansatz folgen und aufhören zu fragen? Solórzanos Ansichten über Atlantis sind eng mit der Behauptung verknüpft, dass Kolumbus wirklich und exzeptionell der allererste und einzige Entdecker Amerikas war, und niemand, wirklich niemand anders. Und das in einem Werk über spanische Kolonialansprüche. Man denke nur!

In Bezug auf Sigüenza behauptet Nesselrath erneut, ich würde pauschal allen Atlantisskeptikern unterstellen, Sigüenzas ehrenvolle Befassung mit Atlantis lächerlich zu machen (S. 5). Nun, erstens: Tue ich das? Und zweitens: Wurde Sigüenza nicht immer wieder lächerlich gemacht? Wieder und wieder und wieder? Warum hat Nesselrath ihn nie verteidigt? Er hatte doch genug Zeit, sich zu äußern, bevor ich kam und es tat.

Was die Göttinger Empiristen anbetrifft, so wiederholt Nesselrath die Behauptung, ich würde Atlantisskepsis und Antiplatonismus in einen Topf werfen (S. 5). Aber im Falle der Göttinger Empiristen ist das nur gerechtfertigt: Sie waren tatsächlich Antiplatoniker. Und es ist nur logisch, dass Antiplatoniker nicht die richtigen sind, um über Platons Atlantis zu sprechen. Andersherum ist es eine andere Sache. Nicht jeder Atlantisskeptiker ist ein Antiplatoniker. – Nesselrath sagt auch, ich würde keinen Beweis dafür liefern, dass die Göttinger Empiristen ähnliche Ideen hatten wie die Nationalsozialisten (S. 9). Aber in meinem Artikel hatte ich über sie geschrieben: "ihre Zurückweisung von Rationalismus und Humanismus, die in einem rücksichtslosen Sozialdarwinismus gipfelte." Ist das nicht Beweis genug? Und dann gibt es natürlich noch mein Buch mit weiteren Informationen, die Nesselrath kennt, wenn es ihm gefällt, und die er nicht kennt, wenn es ihm nicht gefällt.

Susemihls angebliche Wissenschaftstradition

Was Franz Susemihl betrifft, so versucht Nesselrath dessen Behauptung zu rechtfertigen, es gebe eine wissenschaftliche Tradition der Atlantisskepsis, die mit den Göttinger Empiristen beginne und schrittweise zur Verfestigung der Theorie führte, dass Atlantis eine Erfindung Platons sei (S. 6). Dies war die Behauptung von Franz Susemihl, die ich in meinem Buch als falsch entlarvt habe.

Erstens wiederholt Nesselrath die grundlegende Behauptung Susemihls nicht korrekt. Nesselrath unterlässt es, darauf hinzuweisen, dass es sich um eine Tradition handelt, die mit den Göttinger Empiristen und nicht mit der Antike beginnt. Schwamm drüber. Schwerwiegender ist die Auslassung der schrittweisen Entwicklung der Tradition hin zu einer gefestigten wissenschaftlichen Theorie. Denn es geht bei dieser Behauptung nicht nur um irgendeine Tradition. Denn natürlich gab es eine lange Tradition der Atlantisskepsis, ebenso wie eine lange Tradition der Atlantisbefürwortung. Es geht nicht um das Vorhandensein einer Tradition allein, sondern darum, dass diese Tradition im Laufe der Zeit zu einer konsolidierten wissenschaftlichen Theorie der Atlantisskepsis konvergierte.

Nesselrath führt vier Wissenschaftler an, die vor Susemihl schrieben und auf die sich Susemihl selbst bezog, und die nach Nesselraths Ansicht die fragliche Tradition bilden. Sehen wir sie uns an.

(1) Karl Friedrich Hermann (S. 6). Nesselrath berichtet zwar richtig, dass Hermann recht skeptisch war, aber er lässt aus, dass Hermann an die Existenz einer von Solon herkommenden historischen Überlieferung glaubte, die allerdings nicht aus Ägypten stammte. Hermann glaubte auch, dass Platon seinen Idealstaat (das vorzeitliche Athen) in diese Überlieferung einfügte. Dies bedeutet implizit, dass Atlantis nicht von Platon eingefügt wurde. Außerdem sieht Hermann in Platons Atlantisdialogen nicht viel Phantasie. Obwohl Hermann recht skeptisch ist, handelt es sich dabei keineswegs um eine saubere und klare Erfindungshypothese zu Atlantis, wie Nesselrath sie gerne hätte. Im Gegenteil. Es handelt sich allenfalls um eine semi-skeptische Hypothese. Nesselrath weiß das aus meinem Buch und aus der gleichen von ihm zitierten Originalquelle, aber er schweigt dazu.

(2) Karl-Otfried Müller (S. 6 f.). Ja, das ist ein echter Atlantisskeptiker. Aber er hat seine Atlantisskepsis nur in einer Rezension über ein Buch geäußert. Über ein Buch von Humboldt, mit Humboldts Stallbaum-ähnlicher Vorstellung von Atlantis.

(3) Joseph Socher (S. 7). Ja, das ist ein echter Atlantisskeptiker. Aber er ist kein klassischer Philologe. Er ist ein katholischer Theologe. Ja, er schrieb auch sehr allgemein über Philosophie, von Platon bis Kant. Glaubt Nesselrath wirklich, dass ein Experte für religiösen Glauben ein Experte für Atlantisskepsis sein kann? Und Sochers Hauptargument ist genauso fehlerhaft wie das von Susemihl, nämlich die 9.000 Jahre.

(4) Gottfried Stallbaum (S. 7 f.). Das ist keineswegs ein echter Atlantisskeptiker! Stallbaum glaubte an eine historische Überlieferung aus Ägypten. Er glaubte, dass es sich um ein dunkles Wissen über Amerika handeln könnte. Er sagte nur, dass Plato die Dinge ausgeschmückt habe. Nun, das ist gewiss nicht die Art von Atlantis-"Skepsis", die Nesselrath meint. Das ist eher eine Atlantisbefürwortung.

Für Nesselrath sind diese vier eine "impressive group of prominent Atlantis scepticists" (S. 8), die die gewünschte Tradition bilden, die Schritt für Schritt zu einer Erfindungstheorie konvergierte. – Doch wir sehen hier etwas anderes:

Hinzu kommt:

Nun, das ist keine triumphale Siegesparade für die Atlantisskepsis. Im Gegenteil. Und dies ist das Umfeld, in dem Susemihl die freche Behauptung aufstellte, der wissenschaftliche Prozess habe sich in den letzten Jahrzehnten in Richtung Atlantisskepsis konsolidiert. Wir müssen Nesselrath dankbar sein, dass er uns eine weitere Gelegenheit gegeben hat, zu erkennen, wie fehlerhaft Susemihls Behauptung war. Susemihls angebliche wissenschaftliche Tradition gibt es nicht. Die heute vorherrschende Atlantisskepsis ist im 19. Jahrhundert nicht durch die schrittweise Konsolidierung des wissenschaftlichen Prozesses entstanden, sondern durch dreiste Behauptungen, simplifizierende Argumente und das Lächerlichmachen Andersdenkender. Man stelle sich das vor!

Weitere Punkte

Bei den Atlantistheorien über die "Mound Builders" unterstellt mir Nesselrath die Meinung, dass "they were (according to Franke) basically good people because they believed in Atlantis" (S. 8) – Unsinn auf Grundlage von Nesselraths "Missverständnis"! Es ist nur so, dass die meisten derjenigen (nicht alle), die eine Atlantishypothese zu den Mounds hatten, die Indianer bzw. deren Vorfahren als Erbauer der Mounds akzeptierten. Und das ist grundsätzlich eine gute Sache, weil es die Wahrheit ist. Ist das so schwer zu verstehen? War es nötig, dass Nesselrath auch das "missverstanden" hat?

In Bezug auf die Nationalsozialisten unterstellt mir Nesselrath die Meinung, Atlantisskeptiker seien "crypto-Hitlerites" (S. 9). Nochmals nein. Es handelt sich nach wie vor um Nesselraths "Missverständnis".

Nesselrath sieht auch einen "preposterous claim: According to Franke, Atlantis scepticism misrepresents the Nazis' crimes by stressing their belief in Atlantis!" (S. 9) Nun, das ist keineswegs eine absurde Behauptung, sondern sehr ernst. Ich kann nur meine Worte aus meinem Artikel wiederholen: "Indem sie den pseudowissenschaftlichen Fetisch eines angeblichen Atlantisglaubens hinter der NS-Ideologie schaffen, blenden diese Bücher und Dokumentationen die wahren Gründe für die Verbrechen des Nationalsozialismus aus, zu denen u.a. ein romantischer Anti-Rationalismus, ein pseudowissenschaftlicher Biologismus und ein rücksichtsloser Sozialdarwinismus gehören. Das Publikum über das wahre Wesen des Nationalsozialismus und die wahren Gründe seiner Verbrechen fehlzuleiten, ist geradezu unverantwortlich, und diese Verantwortungslosigkeit ist eng mit einer radikalen Atlantisskepsis verbunden, die 'die Nazis' nur zu gerne als Atlantisgläubige sieht, obwohl sie es nicht waren."

Fazit

Wieder einmal hat sich gezeigt, dass Nesselrath meinen Ideen keine Argumente entgegenzusetzen hat (dafür aber eine Menge Rhetorik). Es entsteht der Eindruck eines verzweifelten Eiferns, um zu retten was nicht zu retten ist. Um voranzukommen, müsste Nesselrath erst einmal einen Schritt zurück machen: Zurücktreten von seinen Beleidigungen gegen mich und von all seiner Rhetorik gegen meine Ideen, aus Vergangenheit und Gegenwart. Auf einer sachlichen Ebene ist die Atlantisskepsis noch nicht tot. Ja, in der Tat! Ich fühle mich in gewisser Weise verpflichtet, die Atlantisskepsis gegen Nesselrath zu verteidigen. Denn Nesselraths Susemihl-ähnliche Methode, die Atlantisskepsis durchzudrücken, ist tot. Mucksmausetot.

Das nur nebenbei: All diese Überlegungen zur Rezeptionsgeschichte von Platons Atlantisgeschichte sind nur möglich, weil ich sie recherchiert und veröffentlicht habe. Mehr als 150 Jahre lang hielten es die Atlantisskeptiker nicht für nötig, dies mit prüfendem Blick zu tun, da es ihnen genügte, jede Art von Atlantisglauben lächerlich zu machen. Bis vor kurzem wurde das folgende von führenden Atlantisskeptikern in Sachbüchern geschrieben: Angeblich hat in der Antike fast niemand Atlantis ernst genommen. Angeblich hat im Mittelalter fast niemand über Atlantis gesprochen. Angeblich sind die verrückten Hypothesen über die Existenz von Atlantis erst mit der Entdeckung Amerikas entstanden und in ihrer Zahl explodiert. Und angeblich waren die Wissenschaftler schon immer gegen die Existenz von Platons Atlantis. Doch all dies ist nicht wahr. Die Atlantisskeptiker haben ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Ich aber schon. Nesselrath steht mit all seinen Anschuldigungen und Behauptungen bereits auf dem Boden meiner Arbeit, ob er will oder nicht. Und das Beste kommt erst noch.

Bibliographie

Thorwald C. Franke, Kritische Geschichte der Meinungen und Hypothesen zu Platons Atlantis – von der Antike über das Mittelalter bis zur Moderne, zweite erweiterte Auflage in zwei Bänden, Verlag Books on Demand, Norderstedt 2021. Erste Auflage war 2016 in einem Band.
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